Stau

Folge: 1027 | 10. September 2017 | Sender: SWR | Regie: Dietrich Brüggemann
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Nachgebaut.

Denn wenngleich Stau zu großen Teilen auf der Stuttgarter Weinsteige im Herzen der deutschen Stau-Stadt Nr. 1 spielt, drehte Regisseur Dietrich Brüggemann sein Tatort-Debüt vor allem im Breisgau: In einer Messehalle in Freiburg wurde die berühmte Rechtskurve, die einen fantastischen Blick über die Stadt gewährt, mit rund 100 Metern Mauer und rund 80 Metern Bluescreen nachgebaut.

Wie der Dreh ablief, verriet Hauptdarsteller Richy Müller uns im Interview, und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Kleine Unterschiede zum Originalschauplatz werden ortskundigen Zuschauern zwar auffallen und auch die etwas sterile Atmosphäre im Feierabendverkehr lässt sich nicht leugnen, doch unter dem Strich haben die Techniker und Szenenbildner einen erstklassigen Job abgeliefert – so wie auch Brüggemann, der bei der Vorpremiere auf dem SWR Sommerfestival großen Applaus für seinen ersten Tatort erntete. Zu Recht: Der 20. Einsatz der Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), die bei den Ermittlungen von Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) und Gerichtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) unterstützt werden, ist einer ihrer besten und originellsten.

Brüggemann, der das Drehbuch gemeinsam mit Daniel Bickermann schrieb, spickt die Geschichte mit großartigem Dialogwitz und lässt den gesuchten Täter direkt in den Stau fahren: Bei einem Unfall im Haigst kommt einleitend eine Jugendliche zu Tode und der einzige Fluchtweg des Täters führt direkt auf die wegen eines Wasserrohrbruchs gesperrte Weinsteige. Dort steht das halbe Dutzend Verdächtiger in seinen Autos – so wie das zur Paartherapie verabredete und köstlich zerstrittene Ehepaar Marie-Luise (Julia Heinemann) und Gerold Breidenbach (Eckhard Greiner), das sich pausenlos in die Wolle kriegt und für Lacher am Fließband sorgt.


BREIDENBACH:
Lieber keine Kinder, als Kinder, die vom eigenen Vater totgefahren werden.


Brüggemann bringt die typischen Tatort-Momente elegant in seinem Mikrokosmos Stau unter: Dem Leichenfund folgen eine improvisierte Obduktion, die Auswertung der Spuren und die Verhöre direkt an Ort und Stelle.

In Sachen Unterhaltungswert ist jeder der Verdächtigen ein Volltreffer: Um die Figuren schon vor Lannerts Eintreffen an der Wagenschlange in aller Knappheit einzuführen und so die Basis für seine knifflige Whodunit-Konstruktion zu schaffen, inszeniert Brüggemann eine urkomische Exposition, die jede von ihnen in einer Alltagsszene zeigt und bei zur Gemütslage (un-)passenden Musik in den Stau befördert.

Der Filmemacher bringt binnen Minuten alles für den weiteren Verlauf Wichtige auf die Mattscheibe und hält den Verdächtigen den Spiegel vor, ohne zu tief in die Klischeekiste zu greifen: Neben den Breidenbachs gibt es da Bruddler Günther Lommel (Rüdiger Vogler, Grabenkämpfe), den von seinem Chef ausgenutzten Matthias Treml (Daniel Nocke, schrieb bereits drei Tatort-Drehbücher), die arrogante Geschäftsfrau Ceyda Altunordu (Sanam Afrashteh) und ihren bedauernswerten Chauffeur Bernd Hermann (Jacob Matschenz, Alle meine Jungs), den kiffenden Pflegedienstfahrer Kerem (Deniz Ekinci), den untreuen Anwalt Moritz Plettner (Roland Bonjour) und die gestresste Mutter Tina Klingelhöfer (Susanne Wuest, Zwischen den Fronten), deren anstrengende Tochter Miris (Anastasia Clara Zander) am liebsten den ganzen Tag den Peter-Licht-Song Wettentspannen hören würde.

Sie alle könnten die Fahrerflucht begangen haben und dürfen Lannert zum Verhör in ihrem Auto begrüßen, während Bootz sich am Unfallort umhört – mit dem urschwäbischen Hausdrachen Frau Ott (Sabine Hahn), der im Befehlston die halbe Nachbarschaft zur Schnecke macht, trifft er dort bei der Suche nach der Auflösung auch den heimlichen Publikumsliebling.

Der 1027. Tatort gerät unter dem Strich zwar sehr dialoglastig, doch werden die kleinen Längen durch fantastische Dialoge, amüsante One-Liner ("Fünf Wochen unfallfrei? Kompliment.") und sympathisch-überzeichnete Charaktere mehr als wettgemacht. Zugleich ist der 20. Fall von Lannert und Bootz mit soviel Lokalkolorit durchsetzt, wie man es seit dem Abdanken ihres Vorgängers "Ärnschd" Bienzle (Dietz-Werner Steck) kaum mehr erlebt hat.

Damit liefert Dietrich Brüggemann bei seinem Tatort-Debüt in tollen Cinemascope-Bildern trotz des fast immerselben Schauplatzes (fast) alles, was einen guten Sonntagskrimi ausmacht.

Bewertung: 8/10

3 Kommentare:

  1. Also ich fand den Tatort "Stau" auch außergewöhnlich und durchaus unterhaltsam. Allerdings sind für mich 2 Dinge im Film nicht klar geworden. Kommissar Bootz hat im Laufe der Ermittlungen festgestellt, dass der dreijährige Zeuge zu klein war, um den Unfall zu beobachten und nichts gesehen haben konnte. Wie konnte er dann aber zu Beginn des Tatorts überhaupt das Mädchen erkennen, dass am Straßenrand lag, und so seine Mutter informieren?
    Und wieso hat eigentlich das Kind der "Täterin", die ja mit im Auto saß, überhaupt nichts von dem Unfall mitbekommen?
    Das sind zwei Dinge, die für mich nicht logisch waren. Vielleicht hat jemand eine Antwort darauf?

    AntwortenLöschen
  2. Fakt ist, dass der Junge den Unfall gesehen hat. Ebenso stimmt, dass seine Körpergröße zu klein war, um auf die Straße zu sehen. Also wird er wie alle Kinder diesen Alters auf einem kleinen Hocker o.ä. gestanden haben, den die junge Mutter unbewußt zwischenzeitlich längst ganz nebenbei weggeräumt hatte, als Kommissar Bootz seine Feststellungen machte. Das wäre für mich eine mögliche Erklärung, der Regisseur lässt es jedoch - vermutlich sogar ganz bewußt - offen.

    Die Tochter der "Täterin" saß auf der Rückbank, konnte von dort also nicht so gut sehen wie eine vordere Beifahrerin,war ganz offensichtlich an der ganzen Fahrt nicht interessiert und durch Musik und Gameboy-Spiele ganz mit sich selbst beschäftigt und somit abgelenkt. Aber dies ist jetzt nur meine Hypothese, die der Regisseur aber natürlich auch nicht so im Detail zeigen konnte, denn sonst wäre der Fall ja sofort klar.

    Uli der Schoppmann

    AntwortenLöschen
  3. Eine großartige Tatort-Folge, die ihrer 8/10 Punkte absolut würdig ist.
    Den Filmemachern ist das Kunststück gelungen, Dynamik in einen Film, dessen Handlung sich immerhin im Stau abspielt, zu bringen: Dazu wechseln die Schauplätze zwischen den Kommissaren. Beide Schauplätze sind sehr interessant: Während Bootz mit einer hilfsbereiten Mutter seine Zeit verbringt und dabei Zeuge herzzerreißender Trauerszenen ebenso wie bedingungsloser Nächstenliebe wird, darf Lannert im Stau umherstreifen und sich mit den verschiedensten Charakteren herumschlagen. Alle Verdächtigen sind dabei erstklassig gespielt und gleichwertig im Hinblick auf Kamerazeit sowie Unterhaltungswert. Die Auflösung bleibt sogar bis in die allerletzten Sekunden eine Überraschung. Der Weg dorthin ist grandios.
    Eine zweite Art, Dynamik zu erzeugen, ist die Bewegung der Personen zwischen den Autos im Stau. Dabei wird übrigens erfreulicherweise die Arbeit der Polizei in Schutz genommen, denn die Randalierer, die Verschwörungstheorien verbreiten, bringen auch den Zuschauer auf die Palme.
    Unter dem Strich sehr überzeugend: 8/10 mit Tendenz nach oben!

    AntwortenLöschen