Der Tod ist unser ganzes Leben

Folge: 1021 | 30. April 2017 | Sender: BR | Regie: Philip Koch
Bild: BR/X Filme/Hagen Keller
So war der Tatort:

Nötig.

Denn als im Oktober 2016 die letzten Minuten der großartigen Münchner Tatort-Folge Die Wahrheit über die Mattscheiben geflimmert waren und Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) den Täter weder ermittelt noch gefasst hatten, verlangten viele Fans nach einer Fortsetzung: Ein brutaler Mörder, der am Ende entkommt? Im Tatort undenkbar!

Doch der BR hatte längst vorgesorgt: Heimlich, still und leise hatte der Sender einen Nachfolger drehen lassen und gab dies nach dem Abspann über die sozialen Medien bekannt. Aber wäre es nicht viel wirkungsvoller gewesen, das Ende offen zu lassen und gezielt mit den Sehgewohnheiten des Publikums zu brechen? Angesichts der überragenden Fortsetzung Der Tod ist unser ganzes Leben, der noch eine Ecke spannender ausfällt als der hochklassige Vorgänger, kann man konstatieren: Nein, wäre es nicht!

Denn ähnlich wie bei den Kieler Beiträgen Borowski und der stille Gast und Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes ziehen die Filmemacher die Daumenschrauben in der Fortsetzung deutlich an: Statt als Whodunit-Konstruktion nach Schema F entpuppt sich der Film schon früh als mitreißender Psychothriller und existenzielles Drama, das gehörig an die Nieren geht.

Der Täter steht dabei von Beginn an fest, denn der Mörder von Ben Schröder wird nach der Attacke auf ein weiteres Opfer identifiziert: Es ist Thomas Barthold (fantastisch: Gerhard Liebmann, Die letzte Wiesn), der mit seiner stoischen Ruhe, seiner abfälligen Gleichgültigkeit und einem auffälligen Zahlen-Tick nicht nur optisch an Hollywood-Killer John Doe (Kevin Spacey) aus David Finchers Meisterwerk Sieben erinnert und die Ermittler psychisch und physisch bis an ihre Grenzen bringt.

Schon bald steht alles auf dem Spiel – nicht nur die Lösung des Falles, sondern auch die Gesundheit und das 26-jährige Vertrauensverhältnis der ergrauten Ermittler, die wie in Die Wahrheit fleißig in Erinnerungen schwelgen.


BATIC:
Der Carlo, der hat seine Frau und sein Leben. Und wir? Keine Frau, kein Leben. Nur Leichen. Der Tod ist unser ganzes Leben.


Regisseur Philip Koch und Drehbuchautor Holger Joos (Das verkaufte Lächeln) erzählen die Geschichte auf zwei miteinander verschachtelten zeitlichen Ebenen und bringen auch einige elegant eingeflochtene Rückblicke auf den Vorgänger unter – eine wahre Herkulesaufgabe, die die Filmemacher mit Bravour meistern.

Weil man Batic und Leitmayr schon zu Beginn im Krankenhausbett und auf Krücken durch die Gegend humpeln sieht und sich Leitmayr zudem vor dem Untersuchungsausschuss unter Vorsitz der argwöhnischen Kriminaloberrätin Horn (Lina Wendel, Blutschuld) verantworten muss, stellt sich sofort die Frage, wie es dazu kommen konnte: Man kann zwar erahnen, das beim Gefangenentransport des inhaftierten Barthold unter Aufsicht der Justizbeamten Sabine Merzer (Friederike Ott) und Robert Steinmann (Jan Bluthardt) etwas Dramatisches passiert, aber nicht was und warum.

Dass es in Wir sind die Guten, in dem Batic sein Gedächtnis verlor und unter Mordverdacht stand, eine recht ähnliche Geschichte gab und auch Leitmayr in Der traurige König schon mal bei der internen Ermittlung antanzen musste, stört hier angesichts des immens hohen Unterhaltungswerts nicht im Geringsten. Denn auch handwerklich ragt der 1021. Tatort um Längen aus der durchschnittlichen Krimimasse heraus: Schon der beklemmende Auftaktmord läuft zu einem bedrohlichen Klangteppich in Zeitlupe ab – nur eine von vielen großartig in Szene gesetzten Sequenzen, mit der die Weichen früh auf Hochspannung gestellt werden.

Auch in der Folge bleibt dem Zuschauer kaum Zeit um Luftholen: Die düstere Atmosphäre zieht sich ebenso konsequent durch den Film wie die alles überstrahlende Frage nach der Wahrheit, die zum zweiten Mal binnen sieben Monaten zum Leitmotiv im Krimi aus München wird: Was verschweigt Batic seinem Freund und Kollegen – und hat er sich womöglich selbst zum Schuldigen gemacht?

Wer diese Frage beantwortet wissen will, braucht neben einem guten Nervenkostüm auch einen robusten Magen: Das Blut fließt in diesem überraschend brutalen Beitrag aus Bayern gleich literweise – es sind fast die einzigen Farbtupfer in den auffallend ausgeblichenen Bildern, die sich nachhaltig ins Gedächtnis brennen. So ist Der Tod ist unser ganzes Leben unter dem Strich eine der spannendsten Tatort-Folgen aller Zeiten und der 75. gemeinsame Fall zugleich einer der besten der altgedienten Münchner Ermittler, die erfreulicherweise noch nicht ans Aufhören denken.


BATIC:
Was ist schon die Wahrheit?

LEITMAYR:
Die Wahrheit ist, dass wir beide noch ein paar Jahre vor uns haben.


Bewertung: 10/10

Wehrlos

Folge: 1020 | 23. April 2017 | Sender: ORF | Regie: Christopher Schier
Bild: ARD Degeto/ORF/Hubert Mircan
So war der Tatort:

Schimpffreudig.

Denn sie alle granteln, streiten und schimpfen in diesem österreichischen Tatort nach Herzenslust: Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer), der seine neue Flamme Samy Graf (Ruth Brauer-Kvam, Kolportage) nach dem Mord am Leiter der Wiener Polizeischule vorübergehend sitzen lassen muss, Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser), der Eisners neue Flamme gar nicht in den Kram passt, und sogar der emsige Tollpatsch-Assistent Manfred "Fredo" Schimpf (Thomas Stipsits), der bei seinem sechsten Auftritt so viel Verantwortung übernimmt wie noch nie und dessen Nachname diesmal Programm ist.

Nach einem Streit mit seiner Frau muss Schimpf sich sogar für eine Nacht bei Fellner einquartieren, was wiederum Sektionschef Ernst Rauter (Hubert Kramar) gegen den Strich geht – das streitende Quartett ist komplett und Wehrlos ein Paradebeispiel dafür, dass die Spannungen unter den Ermittlern so fest zur Krimireihe gehören wie die Augen von Horst Lettenmayer und die Musik von Klaus Doldinger.

Auch im Umfeld des Toten wird fleißig gestritten und geschimpft – im Nachbarhaus des Ermordeten streitet ein wunderbar überzeichnetes Ehepaar, in der Leichenhalle sind es die Gerichtsmediziner, und dann ist da noch Fellners Busenfreund Inkasso-Heinzi (Simon Schwarz), der einen Insidertipp für die Ermittler parat hat: Er verweist auf die "depperte Bonny" (Simone Fuith, Falsch verpackt) und den "süßen Clyde" (Sebastian Wendelin), die den Toten erpresst hatten und als Figuren deutlich besser zum irren Iwan, zum treuen Roy oder zum scheidenden Schupo nach Weimar gepasst hätten.

Ansonsten sieht sich Inkasso-Heinzi bei Eisners Befragungen mal wieder in der Opferrolle, obwohl er es faustdick hinter den Ohren und er kaum mal ein nettes Wort für seine Angestellten übrig hat. Einfach köstlich.


INKASSO-HEINZI:
Bist du total deppert? Wieso bestellst du alkoholfreies Bier?


Die erste halbe Stunde der 1020. Tatort-Ausgabe ist eine fast pausenlose Schimpf- und Streittirade - und da das alles in brutalem österreichischen Dialekt und bei nicht ganz optimaler Tonabmischung stattfindet, griffen nicht wenige deutsche TV-Zuschauer früh zur Fernbedienung. Der 40. Einsatz von Harald Krassnitzer ist selbst für geübte Ohren eine akustische Herausforderung, ansonsten aber frei von handwerklichen Schwächen: Regisseur Christopher Schier, der mit Wehrlos sein Spielfilmdebüt feiert, setzt das Geschehen souverän und ohne größere Spielereien in Szene.

Drehbuchautor Uli Brée (Sternschnuppe) hat eine klassische Whodunit-Konstruktion geschrieben, die vor allem im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Figuren interessant ist – der Mordfall gerät durch die vielen zwischenmenschlichen Misstöne aber immer wieder aus dem Blickfeld. Erst nach der obligatorischen zweiten Tatort-Leiche rücken die Filmemacher die Suche nach dem Mörder in den Vordergrund – der Kreis der Verdächtigen ist diesmal allerdings sehr eng gesteckt.

Das liegt auch daran, dass das Innenleben der Polizeischule, in die sich Fellner nach einem erneuten, diesmal allerdings fingierten (oder womöglich doch echten?) Streit mit Eisner einschleust, nur sehr spärlich beleuchtet wird: Böte Fellners Einsatz die Gelegenheit für spannende Ermittlungsarbeit im Auge des Sturms und das Freilegen der von Macht und Angst geprägten Zustände in der Ausbildungseinrichtung, beschränkt sich die Geschichte fast nur auf Scharmützel mit dem feindseligen Ausbilder Thomas Nowak (charismatisch: Simon Hatzl, Tod unter der Orgel), der ein strenges Regiment führt und ein Auge auf die junge Polizeianwärterin Katja Humboldt (stark: Newcomerin Julia Richter) geworfen hat.

Letztere ist zwar die spannendste, weil verschlossenste Figur in diesem Krimi, doch erfahren wir unter dem Strich zu wenig über ihren schweren Stand in der Männerwelt, als dass ihr Schicksal wirklich betroffen machen würde. Gleiches gilt für Eisners alten Kollegen Stefan Pohl (Alexander Strobele, Lohn der Arbeit), der in Wehrlos eine Schlüsselrolle einnimmt.

So lebt dieser solide Wiener Tatort neben der Suche nach der Auflösung am Ende vor allem von der Frage, ob sich Eisner und Fellner nach ihrem heftigen Auftaktstreit wieder versöhnen werden – und das ergibt eine gewohnt unterhaltsame Mischung.

Bewertung: 6/10

Sturm

Folge: 1019 | 17. April 2017 | Sender: WDR | Regie: Richard Huber
Bild: WDR/Frank Dicks
So war der Tatort:

Spektakulär.

Und das nicht nur aufgrund der für Dortmunder Verhältnisse fast irritierenden Harmonie: Wenn eines bei den bisherigen neun Tatort-Folgen aus der Stadt in Westfalen sicher war, dann die offen vorgetragenen Misstöne und privaten Störfeuer, durch die der Mordfall oft aus dem Blickfeld geriet. Beim zehnten Einsatz der Hauptkommissare Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt) und der Oberkomissare Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) ist alles ganz anders: Angesichts der packenden Geschichte und des denkwürdigen Finales gerät es am Ende fast zur Randnotiz, dass zwischenmenschliche Scharmützel in Sturm hintenanstehen müssen, weil alle vier Kommissare bei den Ermittlungen bis an ihre Grenzen gehen.

Besonders spektakulär wird es für Faber: Nach einem doppelten Polizistenmord in der Dortmunder Innenstadt entdeckt er im Büro einer nahegelegenen Bank den Angestellten Muhamad Hövermann (Felix Vörtler, Narben) beim hektischen Ausführen zahlreicher Überweisungen am Computer – und als er das Büro stürmt, einen Sprengstoffgürtel an dessen Körper. Was hat Hövermann vor? Und handelt er aus eigenem Antrieb oder agiert noch jemand im Hintergrund?

Ähnlich wie in Sidney Lumets berühmtem Hollywood-Klassiker Hundstage oder in F. Gary Grays Verhandlungssache ergibt sich eine klassische SEK vs. Geiselnehmer-Konstellation – dabei ist Faber freiwillig in der Bank, setzt dem Täter mit trockenem Wortwitz zu und verweist im kurzen Gespräch mit dessen verbittertem Sohn Bernie (Christian Ehrich, Kunstfehler) auf einen explosiven Kölner Tatort von 1997 ("Alles super hier, Bombenstimmung!") und einen Frankfurter Tatort-Meilenstein von 2010.


HÖVERMANN:
Warum darf er nicht gehen?

FABER:
Weil ich böse bin.


Die Drehbuchautoren Sönke Lars Neuwöhner (Eine Frage des Gewissens) und Martin Eigler (Freigang) geben sich mit dieser altbekannten Ausgangslage allerdings nicht zufrieden und gehen noch einen Schritt weiter: Obwohl sich die Situation in der Bank von Minute zu Minute zuspitzt, ist bald klar, dass von Hövermann eine eher geringe Gefahr ausgeht.

Ähnlich wie im hochklassigen Hamburger Tatort Der Weg ins Paradies lassen die Filmemacher radikale Islamisten auf die Großstadt los, setzen sich nebenbei erfreulich differenziert mit dem Islam auseinander und kreieren ein brenzliges Echtzeit-Szenario, bei dem die Dortmunder Kommissare über weite Strecken auf sich allein gestellt sind und bitter dafür bezahlen – was vor allem Aylin Tezel die Möglichkeit für eine fantastische Performance bietet. Zeit für einen flotten Spruch bleibt zwischendurch trotzdem – zum Beispiel dann, wenn Dalay kurz ihre Nase in die Bank steckt und prompt von Faber angepflaumt wird ("Nächstes Mal bringen Sie 'nen Kaffee mit!").

Und just in dem Moment, in dem sich nach einer guten Stunde der erste Hänger einzuschleichen droht, setzen die Filmemacher mit einem Schockmoment ein aufwühlendes Ausrufezeichen: Es bleibt nicht der letzte Wirkungstreffer in einem Dortmunder Tatort, in dem es am Ende Schlag auf Schlag geht und in dem dem Publikum kaum Zeit bleibt, seine Gedanken neu zu sortieren. Auf der Zielgeraden wird die Spannungsschraube kontinuierlich angezogen: Sturm, der wegen des Terroranschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt gleich zweimal verschoben wurde, gipfelt im bis dato fulminantesten Schlussakkord in der Geschichte der Krimireihe und entließ bei seiner TV-Premiere viele Zuschauer perplex in die Nacht.

Auch handwerklich ist der 1019. Tatort erste Sahne, denn neben dem grandiosen Finale setzt Regisseur Richard Huber (Auf einen Schlag) zum Beispiel auch die erste Begegnung von Faber und Hövermann großartig in Szene: Während der Kommissar mit der Waffe droht und der Kriminelle den Finger am Auslöser der Bombe hat, blicken sich die beiden zum fast unerträglichen Gepiepse des Timers und heulenden Polizeisirenen sekundenlang in die Augen. Ein unheimlich intensiver Moment, in dem die Weichen früh auf Hochspannung gestellt werden. Der Soundtrack von Dürbeck & Dohmen ist bewusst minimal gehalten, verstärkt die vielen Gänsehautszenen aber gekonnt – zum Beispiel dann, wenn Kossik sich allein in eine ehemalige Wohnwagensiedlung begibt und dort in Gefahr gerät.

So steht unter dem Strich der bis dato beste Dortmunder Tatort aller Zeiten – und zugleich ein visuell herausragender und hochemotionaler Actionthriller, der von Minute 1 an mitreißt und noch lange nachwirkt. Chapeau!

Bewertung: 10/10

Am Ende geht man nackt

Folge: 1018 | 9. April 2017 | Sender: BR | Regie: Markus Imboden
Bild: BR/Rat Pack Filmproduktion GmbH/Bernd Schuller
So war der Tatort:

Pseudotschetschenisch.

Denn gut einen Monat nachdem die Schweizer Tatort-Kollegen in Kriegssplitter im Umfeld tschetschenischer Flüchtlinge ermittelten, geht man in Franken noch einen Schritt weiter: Hauptkommissar Felix Voss (Fabian Hinrichs) kehrt von einem Urlaub im Kaukasus zurück und schleust sich nach einem Brandanschlag, bei dem eine Frau aus Kamerun ums Leben kommt, als tschetschenischer Flüchtling in eine Gemeinschaftsunterkunft ein. Undercover!

Und kann von Glück sagen, dass sich in der Anlage keine echten Tschetschenen aufhalten – die würden seine rudimentären Sprachkenntnisse sofort entlarven, und auch Voss' Wissen über seine vermeintliche Heimat ist eher touristischer Natur. Aber auch sonst schöpft keiner seiner neuen Mitbewohner Verdacht, was die Geschichte wenig glaubwürdig macht: Während in der Unterkunft trotz seines mal mehr, mal weniger ausgeprägten Akzents niemand ernsthafte Zweifel an seiner Identität hegt, arbeiten die Kollegen Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel), Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) und Sebastian Fleischer (Andreas Leopold Schadt) mit Unterstützung des urfränkischen Spurensicherungsleiters Michael Schatz (Matthias Egersdörfer) die Verdächtigen außerhalb des Heims ab.

Von Land und Leuten ist im dritten Franken-Tatort aber trotz des vielgepriesenen Lokalkolorits wenig zu spüren: Das Flüchtlingsheim ist als Kulisse ebenso austauschbar wie die meisten Locations für die Außenaufnahmen. Sieht man vom fränkischen Dialekt und einigen Panoramen über den Dächern der Stadt einmal ab, erfahren wir in Am Ende geht man nackt mehr über das letzte Urlaubsziel des Kommissars und tschetschenische Wurst als über den Schauplatz Bamberg.


SCHATZ:
Ganz herzlichen Dank für die Wurscht! Und des ist bei denen 'e Spezialität, oder?

VOSS:
Nein, nein, nein, nein, nein... Das ist einfach... Wurst.


Der vierte Tatort von Regisseur Markus Imboden (Land in dieser Zeit) binnen vier Monaten ist nicht sein bester – was aber weniger an der soliden Inszenierung als vielmehr an der überfrachteten und politisch (zu) stark eingefärbten Geschichte liegt.

Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt (Preis des Lebens) hebt permanent den moralischen Zeigefinger: Die Kommissare spenden Altkleider für Flüchtlinge und Voss spielt sogar mit dem Gedanken einer Adoption – außerdem werden Seitenhiebe auf den deutschen Verwaltungsapparat, voreingenommene Streifenpolizisten und das Gesundheitssystem verteilt.

Während Bambergs Behörden hier in kein gutes Licht gerückt werden, gilt bei den Geflüchteten das Gegenteil: Waren im gewagten Kölner Beitrag Wacht am Rhein fast alle Zuwanderer aufmüpfige Kleinkriminelle, sind die Flüchtlinge hier fast ausnehmend sympathische Zeitgenossen – so auch der minderjährige Syrer Basem Hemidi (Mohamed Issa), der verzweifelt seinen verschwundenen Bruder sucht. Einzig der verbitterte Nordafrikaner Said Gashi (charismatisch: Yasin el Harrouk, Der Wüstensohn), der in der Unterkunft das Sagen hat und sich auf Kosten seiner Mitbewohner bereichert, bildet im 1018. Tatort die Ausnahme.

Ein ziemlich einseitiges Bild, und auch die Figuren außerhalb des Heims sind oft nur wandelnde Klischees: Ringelhahn & Co. treffen unter anderem den einflussreichen Bauunternehmer Sascha Benedikt (Hans Brückner), der das Wohlergehen seiner Mitmenschen seinem Bankkonto unterordnet, und den rechtsradikalen Benjamin Funk (Frederik Bott), der hohle Parolen schmettert ("Flüchtlinge nehmen uns die Arbeitsplätze weg!")- Das hat man alles schon deutlich differenzierter gesehen.

Auf der Strecke bleibt die Charakterzeichnung auch bei den Ermittlern: Wer in ein paar Monaten noch alle vier Namen der nach wie vor profillos wirkenden Kommissare aufzählen kann, zählt zu den wirklich eingefleischten Tatort-Fans. Auch Spannung will lange nicht aufkommen: In Fahrt kommt Am Ende geht man nackt erst in den Schlussminuten, doch der Ausgang des Films, in dem die Auflösung immer wieder in den Hintergrund rückt, ist so vorhersehbar, dass der Schlussakkord ohne nennenswerte Nachwirkung verpufft.

Um eine tiefere Beziehung zu den Figuren aufzubauen, sind es auch einfach viel zu viele: Statt die Zustände und Spannungsfelder in der Gemeinschaftsunterkunft herauszuarbeiten und Voss in einem reizvollen Mikrokosmos ermitteln zu lassen, unternimmt der Kommissar sogar Ausflüge in einer Putzkolonne. So ist der dritte Franken-Tatort der bis dato schwächste und das Team um Voss und Ringelhahn noch immer nicht ganz in der Krimireihe angekommen.

Bewertung: 4/10

Fangschuss

Folge: 1017 | 2. April 2017 | Sender: WDR | Regie: Buddy Giovinazzo
Bild: WDR/Martin Menke
So war der Tatort:

Sabotiert.

Denn ein besonderes Schmankerl im 31. Tatort mit Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) gibt es in der Pathologie zu entdecken: Verstehen Sie Spaß?-Moderator Guido Cantz hat sich während der Dreharbeiten auf den Seziertisch geschlichen und als Leiche mit Pupsen und anderen untoten Geräuschen für zusätzlichen Spaß am Set gesorgt.

Der pünktlich zur TV-Premiere von Fangschuss bekannt gegebene Gag ist aber auch fast schon das Aufregendste an diesem enttäuschenden Beitrag aus Westfalen: Die Drehbuchautoren Stefan Cantz und Jan Hinter, die als Erfinder der Tatort-Folgen aus Münster gelten, liefern einmal mehr nur noch das, was die Fans von Thiel und Boerne sehen wollen. Regisseur Buddy Giovinazzo (Rendezvous mit dem Tod) inszeniert eine seichte Mischung aus Krimi und Komödie, die kaum Spannung und wenig Originelles bietet und in der das routinierte Abspulen der mal mehr, oft weniger gelungenen Witzchen in eine hanebüchene Geschichte mündet.

Während man sich an die immergleichen Frotzeleien zwischen Boerne und Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) und das Reduzieren von Zwei-Szenen-Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) auf ihre Nikotinsucht längst gewöhnt hat, tappen die Filmemacher diesmal auch von einer Klischeefalle in die nächste: Da gibt es die elitäre Jagdgesellschaft unter Leitung der renommierten Wissenschaftlerin Dr. Freya Freytag (Jeanette Hain, Scheinwelten), in der sich Möchtegern-Jäger Boerne natürlich pudelwohl fühlt, einen schwulen Friseur mit Neigung zum Tratschen und – wie so oft im Tatort – einen Journalisten mit zweifelhaften Methoden, der posthum noch die Vorurteilskeule von Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) zu spüren bekommt.


KRUSENSTERN:
Die saufen aber auch zur Inspiration.


Journalist Jens Offergeld (Christian Maria Goebel, Schön ist anders) ist nicht das einzige Opfer in diesem Tatort, bei der die Suche nach dem Mörder zweitrangig ist: Einleitend stürzt IT-Experte Sebastian Sandberg in den Tod. Sebastian Sandberg, Freya Freytag, Jens Offergeld: Sogar die sprechenden Figurennamen in Fangschuss klingen wie aus dem Überraschungsei oder einer schlechten TKKG-Folge.

Und dann ist da noch Leila Wagner (Janina Fautz, Sonnenwende): Die sture Schulabbrecherin gibt vor, Thiels Tochter zu sein, trägt demonstrativ blaue Haare und wird dafür von einer Nonne schräg angeglotzt – viel dicker kann man kaum auftragen. Wer indes glaubt, der Kommissar bekäme von heute auf morgen Nachwuchs in die Geschichte geschrieben, glaubt wahrscheinlich auch an den Weihnachtsmann – und so entwickelt der Vaterschaftstest im Mittelteil bei weitem nicht den emotionalen Punch, den sich die Filmemacher wohl erhofft haben.

Wie schwach auch die Rahmenhandlung um die Suche nach dem Doppelmörder und die Lieferungen von kontaminiertem Gemüse im Futtermittelbetrieb von Horst Martens (Michael Schenk, Borowski und der brennende Mann) auf der Brust ist, zeigt sich besonders an einer Szene: Fahndete im vor allem handwerklich herausragenden Kieler Tatort Borowksi und das dunkle Netz zwei Wochen zuvor noch ein halbes Ermittlerdutzend fieberhaft nach einem im Darknet angeheuerten Auftragskiller, klärt sich eine ähnliche Angelegenheit hier in fünf Sekunden am Telefon.

Statt zum pfiffigen Krimispaß wird Fangschuss zur plumpen Nummernrevue: Die Geschichte ist wild zusammengeschustert und am Ende hängt alles irgendwie zusammen – das hat eher was von Traumschiff oder Vorabendprogramm und wenig mit früheren tollen Folgen aus Münster zu tun, die auch Spannendes boten (vgl. Wolfsstunde). "Vaddern" Thiel (Claus-Dieter Clausnitzer) wurde gleich komplett aus dem Drehbuch gestrichen – die junge Leila auch noch mit ihrem potenziellen Kiffer-Opa zu konfrontieren, hätte das Kasperletheater aber wohl auch perfekt gemacht.

So ist ihr Gekabbel mit Thiel und dessen durcheinander gebrachte Gefühlswelt am Ende noch das Interessanteste im 1017. Tatort – und wären da nicht Leilas permanente Selbstgespräche, die das erzählerische Erfolgsprinzip Show, don't tell ad absurdum führen, könnte man die Kleine sogar ins Herz schließen. Ihr Intermezzo bleibt aber einmalig: Innovationen und neue Figuren scheut der WDR in Münster wie der Teufel das Weihwasser, und deshalb geht eben einfach alles so weiter wie bisher.

Bewertung: 4/10