Es lebe der Tod

Folge: 1001 | 20. November 2016 | Sender: HR | Regie: Sebastian Marka
Bild: HR
So war der Tatort:

Undurchsichtig.

Und das nicht nur aufgrund der dunklen Brillengläser des charismatischen Bösewichts: Mit Es lebe der Tod liefert der Hessische Rundfunk erneut einen herausragenden, lange Zeit rätselhaften Tatort, in dem sich die Puzzleteile der Geschichte nach und nach zu einem großartigen Gesamtkonstrukt zusammenfügen.

LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) und seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) treffen bei ihrem sechsten Einsatz auf einen kaltblütigen Serientäter: Arthur Steinmetz (Jens Harzer, Amour Fou) hat in Wiesbaden schon mehrere Menschen unter Drogen gesetzt und anschließend ins Jenseits befördert. Die neueste Leiche geht allerdings nicht auf sein Konto: Murot und Wächter haben selbst einen Mord inszeniert, um den Täter aus der Reserve zu locken und landen damit einen Volltreffer. Steinmetz geht den beiden nicht nur ins Netz, sondern gesteht auch alle anderen Taten und ist für den Rest des Films ihr Gefangener.

Ähnlich wie im Berliner Tatort Machtlos entwickelt sich durch diesen Verzicht auf das Whodunit-Prinzip ein reizvolles Kammerspiel, bei dem sich Ermittler und Täter auf Augenhöhe begegnen, weil der Kriminelle ein As im Ärmel hat und seelenruhig darauf wartet, es auszuspielen.

Trotz des subtilen Spannungsaufbaus und des auffallend ruhigen Erzählstils sind die Parallelen zu David Finchers Meisterwerk Sieben und ähnlich gelagerten Psychothrillern dabei nicht zu übersehen: Führte im hochspannenden Hollywood-Klassiker der eiskalte Serienmörder John Doe (Kevin Spacey) das FBI selbst in Gefangenschaft noch an der Nase herum, ist es hier der bemerkenswert gelassene Steinmetz, der den Ermittlern ein Puzzleteil nach dem nächsten zuspielt und sich selbst nicht etwa als Mörder, sondern als Erlöser seiner Opfer sieht.


STEINMETZ:
Haben Sie schon bemerkt, wie friedlich alle auf den Fotos aussehen? Fast lächeln? Keine Angst, keine Qual...

MUROT:
Weil sie einen Cocktail aus Barbituraten und Opiaten im Blut hatten. Da würde ich auch lächeln.


Wenngleich es mit einer späten Postzustellung im Präsidium sogar eine direkte Anspielung auf die krachende Schlusswendung in Sieben gibt, macht der Täter im 1001. Tatort aus seinem großen Ziel kein Geheimnis: Er möchte Murot töten – und ist felsenfest davon überzeugt, dass es ihm am Ende auch gelingen wird. Das Ableben des Kommissars scheint damit eine ernsthafte Option für den Ausgang der Geschichte: Spätestens seit der köstlich-selbstironischen Film-im-Film-Konstruktion Wer bin ich? ist in Wiesbaden nichts mehr unmöglich und das dramatische Finale somit vorprogrammiert.

Zwischen Murot und seinem potenziellen Mörder entwickelt sich ein reizvolles, wenn auch lange Zeit aufs Verbale beschränktes Katz-und-Maus-Spiel, wobei die zielstrebig zugespitzte Konfrontation nicht ganz so spektakulär ausfällt wie die mit Bösewicht Richard Harloff (Ulrich Matthes) in der alles überragenden Shakespeare-Western-Italo-Oper Im Schmerz geboren. Doch auch der geständige Mörder in Es lebe der Tod bleibt nachhaltig in Erinnerung: Theaterschauspieler Jens Harzer drückt dem fesselnden Krimidrama mit einer tollen Performance seinen persönlichen Stempel auf.

Aus den Augen des Antagonisten, der bei seinen Taten ähnlich unauffällig agiert wie Kult-Killer Kai Korthals (Lars Eidinger) aus Borowski und der stille Gast, schimmert neben Eiseskälte auch Unschuld und unerschütterliches Selbstvertrauen: Steinmetz strahlt eine rätselhafte Faszination aus, der man sich kaum entziehen kann.

Auch hinter der Kamera leisten alle Beteiligten erstklassige Arbeit: Regisseur Sebastian Marka (Hinter dem Spiegel) knüpft handwerklich nahtlos an seinen bärenstarken Frankfurter Tatort Das Haus am Ende der Straße an, während Drehbuchautor Erol Yesilkaya (Alle meine Jungs) nach seinem Cliffhanger im Münchner Beitrag Die Wahrheit erneut Gesprächsstoff liefert. Immer wieder verwischen in diesem atmosphärisch dichten, von einem wunderbaren Soundtrack begleiteten Psychodrama die Grenzen zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, was der Charakterzeichung dienlich ist: Während die Motive des Täters in dessen Kindheit liegen, darf Murot den Tod seines Vaters (Thomas Bartling) aufarbeiten, den er nie überwunden hat.

Der Ermittlungsalltag rückt dadurch oft in den Hintergrund: Das Erarbeiten neuer Erkenntnisse wird oft mit wenigen Sätzen zusammengefasst, statt es in gewohnter Tatort-Manier ausführlich zu illustrieren. Wer schon die letzten Beiträge aus Hessen nicht mochte, wird daher auch mit diesem Film Probleme haben – aber Mainstream war der Tatort aus Wiesbaden, der 2016 das Maße aller Dinge in der Krimireihe ist und auf Jahre hinaus bleiben wird, bekanntlich noch nie.

Bewertung: 9/10

Taxi nach Leipzig

Folge: 1000 | 13. November 2016 | Sender: NDR | Regie: Alexander Adolph
Bild: NDR/Meyerbroeker
So war der Tatort:

Würdig.

Denn fast genau 46 Jahre nach der ersten Ausgabe der erfolgreichsten deutschen Krimireihe feiert diese ihr großes Jubiläum: Taxi nach Leipzig ist nicht nur ein herausragender Thriller, sondern – zumindest nach offizieller Zählweise – die 1000. Tatort-Folge und trägt denselben Titel wie die erste mit dem knorrigen Hamburger Hauptkommissar Paul Trimmel (Walter Richter), der sich 1970 in die DDR aufmachte und dort eine Fahrt im Taxi nach Leipzig absolvierte.

Auch den gleichnamigen Jubiläumskrimi von 2016 kennzeichnen eine lange Autofahrt und (bundes-)länderübergreifende Ermittlungsarbeit: Tingelte Trimmel seinerzeit über die ehemalige innerdeutsche Grenze nach West-Berlin und Leipzig, fahren die in Kiel und Hannover beheimateten NDR-Kommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) aus der Nähe von Braunschweig gen Sachsen. Besser gesagt: Sie werden gefahren – von einem kaltblütigen Mörder.

Am Steuer des Taxis, das Borowski, Lindholm und ihr älterer Kollege Sören Affeld (Hans Uwe Bauer, Großer schwarzer Vogel) nach Ende des zähen Tagesprogramms einer gemeinsamen Fortbildung besteigen, sitzt mit dem psychisch labilen Ex-Elitesoldaten Rainald Klapproth (Florian Bartholomäi, Weihnachtsgeld) eine fleischgewordene tickende Zeitbombe, die Affeld im Affekt das Genick bricht und die beiden Kommissare als Geiseln nimmt. Der traumatisierte Afghanistan-Rückkehrer hat nur noch eines im Kopf: Nach Leipzig fahren und seiner Ex-Freundin Nicki Lowkow (Luise Heyer) sagen, dass deren Verlobter Erik Tillmann (Trystan W. Pütter) bei einem Einsatz einen Befehl gegeben hat, bei dem Klapproth unschuldige Zivilisten töten musste.

In bester Cosmopolis-Manier spielt der Großteil des Films im Inneren des Autos: Borowski und Lindholm versuchen sich an billigen Psychotricks und scheitern damit kläglich, was einige gekonnt platzierte Lacher generiert.


LINDHOLM:
Wieviele Amokläufe haben Sie denn schon erlebt?

BOROWSKI:
Ich habe eine Dokumentation gesehen.

LINDHOLM:
Ach ja? Welche?

BOROWSKI:
Die auf Arte.


Dass die Jubiläumsfolge nicht nur dem Stammpublikum großen Spaß macht, liegt neben dem Verzicht auf das erzählerisch einengende Whodunit-Prinzip auch an der steilen Spannungskurve: Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph, der unter anderem die Tatort-Hochkaräter Der oide Depp und Der tiefe Schlaf konzipierte, stellt erneut sein Ausnahmekönnen unter Beweis und inszeniert mit Taxi nach Leipzig einen packenden Psychothriller, der neben Spannung und Witz auch Kult, Klasse und Herz mitbringt.

Die Parallelen zu Martin Scorseses Meisterwerk Taxi Driver sind nicht zu übersehen: Ähnlich wie Ex-Marine Travis Bickle (Robert DeNiro) lässt Klapproth den Zuschauer an seiner Wut teilhaben und sich selbst zu einer Bluttat hinreißen. Als es die Ermittler nach dem ersten (aber nicht einzigen) Wendepunkt der Geschichte mit Wölfen zu tun bekommen (ein toller Verweis auf den Meilenstein Borowski und das Mädchen im Moor), darf das Publikum auch in die Gedankenwelt von Borowski und Lindholm hineinhören.

Verfeinert mit Italo-Western-Zitaten, atmosphärisch starken Horror-Anleihen und einem finsteren Soundtrack jagt ein Gänsehautmoment den nächsten: Der Mittelteil der 1000. Tatort-Folge gehört zum Spannendsten, was es bis dato in der Krimireihe zu sehen gab und mündet in ein dramatisches Finale, in dem die Filmemacher keine Kompromisse eingehen.

Neben Filmemacher Adolph glänzt auch der Rest des erfolgserprobten Personals: Während Maria Furtwängler im Tatort für Quote und Axel Milberg für Qualität steht, mimte der erneut hervorragende Florian Bartholomäi unter anderem den Mörder der Familie des Dortmunder Kollegen Peter Faber (Jörg Hartmann) in Auf ewig Dein.

Etwas enttäuschend sind allerdings die Cameo-Auftritte von Karin Anselm (verkörperte in den 80er Jahren die zweite weibliche Tatort-Kommissarin Hanne Wiegand), Hans Peter Hallwachs (spielte in Taxi nach Leipzig einst DDR-Oberleutnant Klaus) und Friedhelm Werremeier (Erfinder der Tatort-Folgen mit Hauptkommissar Trimmel), denen nicht einmal Text zugestanden wird. Ganz anders Günter Lamprecht, der ebenfalls im 1. Tatort zu sehen war und in den 90er Jahren als Hauptkommissar Franz Markowitz in Berlin ermittelte: Lamprecht darf die letzten Worte sprechen und bringt die großartige Jubiläumsfolge damit zu einem rührenden Abschluss.

Bewertung: 9/10

Borowski und das verlorene Mädchen

Folge: 999 | 6. November 2016 | Sender: NDR | Regie: Raymond Ley
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Islamfixiert.

Denn nicht zum ersten Mal halten radikale Muslime Einzug in die beliebteste deutsche Krimreihe: Im hochspannenden Hamburger Meilenstein Der Weg ins Paradies durchkreuzte zum Beispiel Undercover-Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) die Pläne islamistischer Massenmörder, während die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) im sehenswerten Terror-Krimi Zorn Gottes einen Anschlag am Flughafen in Hannover verhinderten.

Nun greifen die Tatort-Debütanten Charlotte Pehlivani (Drehbuch) und Raymond Ley (Regie) in Borowski und das verlorene Mädchen erneut ein aktuelles Thema auf: Die Radikalisierung junger Muslime ist im Herbst 2016 ein vieldiskutiertes Problem und beschäftigt daher auch die anschließende Talkrunde mit Anne Will.

Den Fokus legen sie dabei aber nicht auf das Verhindern eines Terroranschlags: Statt die Kieler Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) bei einem Wettlauf gegen die Zeit nach einem Attentäter suchen zu lassen, beschäftigen sich die Filmemacher mit der Frage, was die intelligente deutsche Schülerin Julia Heidhäuser (Mala Emde, Schmuggler) dazu bringen kann, ihren bisherigen Werten abzuschwören und sich vom zweifelhaften Weltbild des sogenannten Islamischen Staats verführen zu lassen.

Die Ermittlungen führen direkt in eine Moschee: Dort duldet der undurchsichtige Imam Abu Abdullah (Ferhat Keskin, Im Abseits) neben gemäßigten Muslimen auch den frisch aus der Haft entlassenen Gewalttäter Hasim Mahdi (Dogan Padar) und einen islamistischen Hassprediger, der sein krankes Gedankengut beinahe ungestört unters Volk bringen kann. Nach dem einleitenden Tod der umtriebigen jungen Mutter Maria (Franziska Brandmeier), die sich bis zu ihrem Ableben am Hörer einer Sex-Hotline was dazu verdient hat, ermitteln die Kommissare aber noch an einer zweiten Front.


BRANDT:
Sie haben da jetzt aber nicht mit Ihrem Diensthandy angerufen, oder?

BOROWSKI:
Doch, natürlich. Das war ja auch ein Dienstgespräch.


Unter dem Strich wird man das Gefühl nicht los, dass sich ein paar Nebenfiguren zuviel in diesem Krimi tummeln und die Charakterzeichnung mit Blick auf den zweiten Handlungsstrang fast zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss: Borowski und Brandt, die in der ersten Krimistunde ein wenig lustlos wirken, müssen sich neben der Muslimin Amina Jaschar (Sithembile Menck), Julias Mutter (Patrycia Ziolkowska, Häuserkampf) und ihrem Bruder Nils (Sven Schelker) auch noch mit drei Mitschülerinnen der Toten auseinandersetzen – eine Annäherung an das Seelenleben dieser Figuren findet lediglich im Falle der verzweifelten Mutter statt.

Als realitätsnahe Auseinandersetzung mit der Radikalisierung junger Muslime funktioniert der 999. Tatort trotz kleinerer Klischeefallen allerdings ziemlich gut, wenngleich der Tod von Julias Vater als Auslöser für deren Sinneswandel und die damit einhergehende Aussicht auf eine Zwangsheirat etwas behauptet wirkt.

Auf Betriebstemperatur kommen die Komissare aber erst nach dem Fund der obligatorischen zweiten Leiche, und auch die abrupte Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion fällt wenig überzeugend aus: Am Ende scheint noch schnell ein/e Mörder/in herzumüssen, dabei hätte die viel interessantere Geschichte um Julias geplante Reise in den Nahen Osten ohne den Auftaktmord kaum schlechter funktioniert.

Und dann ist da noch ein prominenter Gaststar: Der deutsche Hollywood-Export Jürgen Prochnow (Schlafende Hunde) mimt in Borowski und das verlorene Mädchen mit dem Staatsschutz-Kollegen Kesting wie schon viele andere Schauspieler vor ihm einen skrupellosen Störenfried einer höheren Behörde, der sich für den Mordfall kaum interessiert und alles seinen eigenen Interessen unterordnet. So lässt sich nach den Reibereien mit den Kommissaren mal wieder die Uhr stellen.

Anders als die glänzend aufgelegte Jungschauspielerin Mala Emde, die bereits bei Meine Tochter Anne Frank mit Regisseur Raymond Ley zusammenarbeitete und für diese Hauptrolle den Bayerischen Fernsehpreis erhielt, wird Prochnow in seiner Rolle allerdings kaum gefordert – rechtfertigt in diesem ungewohnt mittelmäßigen Kieler Tatort aber zumindest den Auftritt von Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel), der ansonsten wie das fünfte Rad am Wagen wirkt und natürlich sofort kuscht, wenn der einflussreiche Kollege im Präsidium aufschlägt.

Bewertung: 6/10