Alle meine Jungs

Folge: 912 | 18. Mai 2014 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Keineswegs für die Tonne.

Denn das Drehbuch zu Alle meine Jungs ist qualitativ alles andere als das, um was sich beim 30. Einsatz von Inga Lürsen (Sabine Postel) alles dreht: Müll. Regisseur Florian Baxmeyer (Hochzeitsnacht), der den Krimi direkt im Anschluss an seinen herausragenden Bremer Tatort Brüder drehte, beweist auch diesmal wieder ein gutes Gespür für stimmige Atmosphäre und entführt den Zuschauer in eine Welt aus Abfall, Angst und Abhängigkeit.

Er inszeniert einen zunächst farbenfrohen, fast freundlichen Tatort, der in einer völlig anderen Tonalität erklingt als der Vorgänger und sich nach einer Gewalteruption im Mittelteil zu einem waschechten Mafiathriller mausert. Nicht von ungefähr verweist Bewährungshelfer Uwe Frank (Roeland Wiesnekker, Fette Hunde), den alle seine vorbestraften Jungs auf der Müllhalde nur "Papa" nennen, mit ironischem Unterton auf Martin Scorseses Mafia-Meisterwerk GoodFellas.

Anders als im hochspannenden Großstadtthriller Brüder, in dem Baxmeyer das Publikum in ein beängstigendes Clan-Szenario stürzte, sind die Figuren im 912. Tatort aber allesamt überzeichnet: Die Welt, in der seine als Whodunit angelegte Geschichte spielt, mutet fast wie eine Parallelgesellschaft an. Muskelbepackte, wild tätowierte und meist sprachlose Müllmänner bewohnen dieselbe Häuserzeile in einer Bremer Seitenstraße, geben sich als verschworene Gemeinschaft und gehen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft auf ihre ganz eigene Weise an.

Der undurchsichtige "Papa" hingegen residiert in einem Chinarestaurant, in dem der Boney M-Klassiker Daddy Cool und die Stones-Hymne Sympathy For The Devil dudeln, während der Müllpate sich genüsslich seinem Labskaus widmet und unbehelligt von Vorgesetzten, die sich von seiner erstklassigen Rehabilitierungsrate blenden lassen, mafiösen Geschäften nachgeht. Das mutet ziemlich skurril an und ist augenzwinkernd zu verstehen: Wer sich auf einen Tatort mit in der Realität geerdeten Figuren gefreut hat, dürfte mit Alle meine Jungs kaum glücklich werden.

Die Grenzen zwischen brodelnder Satire und klassischer Krimi-Unterhaltung verschwimmen, doch gleitet der Film nie ganz ins Komödiantische ab. Das Drehbuchautorentrio Erol Yesilkaya, Boris Dennulat und Matthias Tuchmann entspinnt ein Szenario, in dem sich das Verbrechen in orangefarbener Arbeitskluft tarnt und sich selbst Lürsen ihrer anonymen Abfallentsorgung nicht mehr sicher sein kann.

"Viel zu viel Rotwein", stellt Frank trocken fest, nachdem seine Jungs die Mülltonne der Kommissarin durchwühlt und auch die Abfälle ihrer Tochter und Vorgesetzten Helen (Camilla Renschke) auf Herz und Nieren geprüft haben. Leider streift das Drehbuch diesen hochinteressanten Ansatz, Menschen mit ihrem eigenen Müll unter zu Druck zu setzen, nur im Vorbeigehen – und doch ist die Sequenz, in der der "Papa" ein entlarvendes Fundstück nach dem nächsten auf den Tisch legt, die beste des Films. Baxmeyer setzt hier auf eine knackige Parallelmontage: Während Lürsen im Präsidium vorgeführt wird, prügeln sich Kollege Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) und der verdächtige Sascha (Jacob Matschenz, Waidmanns Heil) mit einer Übermacht finsterer Müllmänner.

Wenig später stiehlt dann der aufmüpfige Tarik (Patrick Abozen, debütiert später als Kölner Assistent Tobias Reisser in Der Fall Reinhardt) Lürsens Dienstwaffe und missbraucht sie für ein perfides Gangritual – und spätestens hier ist von der Unbeschwertheit und dem ironischen Unterton der ersten Filmhälfte nichts mehr zu spüren.

Dass Alle meine Jungs am Ende ein wenig unrund wirkt, liegt aber weniger an diesem Stimmungswechsel, sondern eher an der Vielzahl der Figuren und der etwas überfrachteten Handlung: Spätestens auf der Zielgeraden, als eine Durchsuchungsaktion der Polizei die Weserstadt in neapolitanische Verhältnisse stürzt, schießen die Filmemacher ein wenig über das Ziel hinaus.

Dennoch ist der 30. Lürsen-Einsatz ein kurzweiliger, nie langweiliger Mix aus ironisch angehauchtem Mafiathriller und bitterem Sozialdrama, in dem Roeland Wiesnekker seine Rolle als charmanter und zugleich eiskalter Müllmogul mit Leben füllt und auch die stimmungsvolle Filmmusik einen entscheidenden Teil zur dichten Atmosphäre des Krimis beiträgt.

Bewertung: 6/10

Ohnmacht

Folge: 911 | 11. Mai 2014 | Sender: WDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: WDR/Martin Menke
So war der Tatort:

Ärgerlich – und das aus mehreren Gründen.

Zum einen wirkt Ohnmacht wie ein Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten: Mit dem starken Franziska und dem guten Der Fall Reinhardt wähnte man den lange in der Versenkung verschwundenen Kölner Tatort wieder auf dem aufsteigenden Ast – doch nach einem spannend inszenierten Auftakt in einer U-Bahn-Station, bei dem Hauptkommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) dem Tod nach einer Prügelei mit Jugendlichen knapp von der Schippe springt, ist diesmal für lange Zeit die Luft raus.

Regisseur Thomas Jauch (Alter Ego) und Drehbuchautor Andreas Knaup (Nasse Sachen) erzählen eine gut gedachte, aber weniger gut gemachte Geschichte, die man in ähnlicher Form schon besser gesehen hat: Im vielgelobten Gegen den Kopf bekamen es die Berliner Kommissare ebenfalls mit rabiaten Bahn-Schlägern zu tun, doch im Vergleich dazu kann Ohnmacht selten mithalten. Denn meist wird viel zu dick aufgetragen: Es hagelt platte Binsenweisheiten, betroffene Blicke und überflüssige Kommentare, in denen Ballauf und sein Kollege Freddy Schenk (Dietmar Bär) aussprechen müssen, was die Bilder von Kameramann Clemens Messow längst entlarvt haben.

Ärgerlich ist der Fall aber auch für die Ermittler, die das Jugendstrafrecht am liebsten neu schreiben würden: Dass die unterkühlte Haftrichterin Carola Blessing (Anne Cathrin Buhtz, Hundeleben) – typisch für dieses Rollenbild im Tatort – in erster Linie mal ihren Job macht, gerät angesichts ihres arroganten Auftretens und ihrer sturen Paragraphenreiterei, die Ballauf auf die Palme bringt, leicht in Vergessenheit. Hier hätte man sich weniger plumpe Zaunpfahl-Kritik am deutschen Rechtsstaat gewünscht: Lösungsansätze liefert der 911. Tatort, in dem der 2013 verstorbene Christian Tasche zum vorletzten Mal als Staatsanwalt von Prinz zu sehen ist, erwartungsgemäß keine.

Muss er ja auch nicht.

Doch es passt es ins Bild, dass auch beim Blick auf die jugendlichen Rabauken viele Klischees bemüht werden: Keiner der jungen Charaktere vermag mit seinem Verhalten zu überraschen. Der hochnäsige Bald-Jurist Adrian Hamstetten (Sven Gielnik, Puppenspieler) lässt die Kommissare ausgerechnet beim Waschen eines schicken Cabrios abblitzen, das verhätschelte Prinzesschen Janine Bertram (Nadine Kösters) hat es natürlich faustdick hinter den Ohren und das aggressive Problemkind Kai Göhden (Robert Alexander Baer) tritt jegliche Autorität mit Füßen.

Auch Janins Vater Gerolf (gut: Felix von Manteuffel, Rosenholz) und ihre Mutter Elisabeth (stark: Corinna Kirchhoff, Schleichendes Gift), die seit Jahren nicht mehr miteinander schlafen und die Probleme mit ihrer Tochter verdrängen, bleiben trotz ihrer charismatischen Auftritte zu schemenhaft. Während Jungschauspielerin Kösters als perfekt frisiertes Unschuldslamm mit Hang zur Gewalteruption in erster Linie wie der Engel auf Erden aussehen muss, neigt Baer zum Over-Acting und bleibt vor allem mit pseudocoolen One-Linern und penetranter Zeichensprache in Erinnerung.

Dass sich die Prügel-Teenager am Ende mit einem simplen Bauerntrick aufs Kreuz legen lassen, will nicht zu ihrer vorherigen Gewitztheit passen und gipfelt in einem extrem konstruierten Showdown im Verhörzimmer, der fast in die unfreiwillige Komik abdriftet. Die heftige Schlusspointe, die die Ohnmacht der Erwachsenenwelt gegenüber dem kriminellen Nachwuchs noch einmal auf den Punkt bringen soll, kann das bei weitem nicht wettmachen.

Dem Tatort mangelt es aber auch einfach an Sympathieträgern: Die neue Nerd-Kollegin Miriam Häslich (Lucie Heinze) versucht sich als selbstbewusster Digital Native („Bin ja schließlich ausgebildete IT-Fachfrau und keine Tippse!“), nervt aber mit neunmalklugen Plädoyers fürs digitale Büro.

Dem staunenden Schenk, der seine Begeisterung mit eifrigem Lob („Das ist ja toll!“) und schwärmenden Blicken unterstreicht, schickt sie ein Protokoll aufs Smartphone: Willkommen im Jahr 2014, Freddy. Papierfreund und SMS-Laie Ballauf („LOL?“) hingegen lässt die Assistentin ein per Spracherkennung erstelltes Protokoll abtippen, weil darin „Brombeerjacke“ statt „Bomberjacke“ zu lesen ist. Ein Wahnsinnsgag. Aber kein Wahnsinnstatort.

Bewertung: 4/10

Am Ende des Flurs

Folge: 910 | 4. Mai 2014 | Sender: BR | Regie: Max Färberböck
Bild: BR/Denise Vernillo
So war der Tatort:

Ungemein gemein – denn Am Ende des Flurs ist nicht nur ein verdammt stimmungsvoller und herausragender Tatort, sondern verblüfft mit einem brutalen offenen Ende.

Der für die Krimireihe bis dato einmalige Cliffhanger, der nach dem Abspann zahlreiche Google-Suchanfragen à la "tatort leitmayr tot" generierte, ist zugleich das Bemerkenswerteste an einem grandiosen Krimidrama, das allenfalls wegen kleinerer Logiklöcher und der etwas abgegriffenen Ausgangslage in der B-Note minimal schwächelt.

"Sie!", sprudelt es nach dem Tod der vielfach verehrten Liebesdienerin Lisa Brenner (Fanny Risberg) aus dem tatverdächtigen Harry Riedeck (Wolfgang Czeczor, Schneetreiben) heraus, als der Münchner Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) ihn fragt, wen das Mordopfer in den vergangenen Jahren denn alles getroffen habe. Ihn? Den Franz?

Tatsächlich: Wie schon im großartigen Tatort Im freien Fall bildet eine leidenschaftliche Affäre des ergrauten Ermittlers das emotionale Epizentrum des Krimis und stellt das Verhältnis zu seinem bis dato ahnungslosen Kollegen Ivo Batic (Miroslav Nemec) auf eine harte Probe. Auch wenn dieser Drehbuchkniff keinen Innovationspreis gewinnen wird, holt Filmemacher Max Färberböck das Maximum aus seiner Geschichte heraus.

Schon die ersten Minuten lassen erahnen, dass nach den durchwachsenen Vorwochen mal wieder ein echter Hochkaräter auf dem Programm steht: In einer Rückblende räkelt sich das spätere Opfer zu den verträumten Klängen von Ketty Lesters Love Letters (die schon David Lynch in seinem Meisterwerk Blue Velvet verwendete) in einem weißen Hochzeitskleid in einem komplett weißen Raum auf einem weißen Sofa. In der nächsten Szene befinden wir uns plötzlich im Hier und Jetzt: Brenner prostet mit Champagnerglas in die Kamera, bittet das Publikum auf ihren Balkon – und liegt nach einem harten Schnitt in einer Blutlache auf der Straße. Wir blicken durch die Augen des Mörders – und sind mittendrin statt nur dabei.

Auch den zweiten Leichenfund, den Färberböck kurz vor Schluss stilsicher aufgreift, inszeniert der Grimme-Preisträger großartig: Als bei einer Hausdurchsuchung das Schlimmste zu befürchten ist, springt plötzlich ein krähender Rabe ins Bild, der durch ein offen stehendes Fenster den Weg ins blutverschmierte Innere gefunden hat und den grausigen Fund des bestialisch abgeschlachteten Opfers in Hitchcock-Manier erahnen lässt.

Neben Regie und Kamera, Schnitt und Szenenbild, dem melancholischen Soundtrack mit Waylon Jennings' wunderbarer Country-Ballade Dreaming my dreams with you und markantem Lokalkolorit ist aber auch die Besetzung erste Sahne – wenngleich das ansprechende Debüt von Tatort-Frischling Ferdinand Hofer (zum Interview) und der vielfach TV-erprobten Lisa Wagner (Grimme-Preis für Nie wieder frei sein), die als pfiffig-naiver Assistent Kalli Hammermann und toughe Fallanalytikerin Christine Lerch dauerhaft zum Kernteam zählen sollen, fast ein wenig untergeht.

Barbara de Koy (Gestern war kein Tag) überragt als einsame Nachbarin Margot Höllerer ebenso wie Theaterschauspieler Franz Xaver Kroetz (Wolf im Schafspelz), der als grantelnder Wiesn-Wirt Toni Feistl ("Bondage, Herr Batic!") einen wahnsinnig charismatischen Auftritt hinlegt.

Doch vor allem die Schlussviertelstunde ist das Beste, was die Krimireihe seit langer Zeit gesehen hat: Färberböck nimmt das Publikum minutenlang in den Schwitzkasten und drückt dann in einer elektrisierenden Schlusspointe gnadenlos zu. Anders als bei Leitmayrs tragischer Affäre mit Studentin Anne (Jeanette Hain) in Im freien Fall findet diesmal aber nicht der Kommissar, sondern ein großer Teil der Fernsehzuschauer, am Ende nur schwer den Weg in den Schlaf:

Der atemberaubende Cliffhanger, der am Morgen nach der Erstausstrahlung im Mai 2014 in den deutschen Büros Gesprächsthema Nr. 1 war, macht Am Ende des Flurs zu einem außergewöhnlichen Tatort-Erlebnis und zugleich zu einem Meilenstein der Krimireihe.


BATIC:
Wir schaffen das, Franz!


Bewertung: 10/10