Borowski und der Engel

Folge: 892 | 29. Dezember 2013 | Sender: NDR | Regie: Alexander Kleinert
Bild: NDR/Christine Schröder
So war der Tatort:

Krönend – denn der letzte Tatort des Jahres 2013, in dem es wie immer Höhen, Tiefen und viel Mittelmaß gab, ist zugleich der beste.

Das ist kein Zufall: Wenn Drehbuchautor Sascha Arango – der unter anderem die hochkarätigen Skripts zum Kopper-Debüt Der kalte Tod oder den Kieler Folgen Borowski und das Mädchen im Moor und Borowski und die Frau am Fenster schrieb – am Ruder sitzt, dann kann fast nichts mehr schief gehen. Erneut konzipiert der Ausnahmeautor eine extrem reizvolle Geschichte, die mit mehreren eisernen Tatort-Prinzipien bricht, gekonnt mit ihnen spielt und von der ersten bis zur letzten Minute an den Fernsehsessel fesselt.

Dabei verzichtet Arango in Borowski und der Engel einmal mehr auf das gewohnte Whodunit-Prinzip: Wenngleich die vereinsamte Altenpflegerin Sabrina Dobisch (Lavinia Wilson) eigentlich nur einen Katzenunfall provozieren und als vermeintlich Trauernde die tröstenden Worte ihrer Mitmenschen ernten will, wird sie durch das Ausweichmanöver der bedauernswerten Autofahrerin Doris Ackermann (Leslie Malton, Teufel im Leib) plötzlich zur indirekten Mörderin. Ackermann rast stattdessen in die Fensterfront eines Blumengeschäfts und erwischt den Jungpianisten und Frauenschwarm Christian von Meeren (Martin Bruchmann) tödlich.

Kein klassischer Auftaktmord, kein echtes Motiv, kein Miträtseln bei der Täterfrage – und doch ist Borowski und der Engel so packend wie kaum eine zweite Folge im Jahr 2013. Denn ist die Frage, ob die Kieler Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibell Kekilli) der weitermordenden Dobisch in bester Columbo-Manier am Ende das Handwerk legen können, nicht viel fesselnder als die normalerweise gestellte Frage nach Täter oder Täterin?

Bis zur Schlussminute bleibt offen, ob Borowski und Brandt den perfiden Todesengel hinter Gitter bringen: Dass eine Leiche verschwunden bleibt und Dobisch vielleicht sogar für ein Verbrechen büßen muss, das sie gar nicht begangen hat, ist die Krönung der clever arrangierten und bis ins Detail durchdachten Geschichte.

Allein der groteske Wendepunkt, bei dem von Meeren-Freund André Rosenthal (Bruno Cathomas, debütiert 2017 in Land in dieser Zeit als Kripochef Fosco Cariddi im Frankfurter Tatort) sich einen tödlichen Cocktail verabreicht, macht deutlich, dass der Tatort auch nach über 40 Jahren Mattscheibenpräsenz noch immer mit originellen Einfällen aufwartet – zumindest dann, wenn ein Autor wie Arango, der privat mit Milberg befreundet ist, vom federführenden Sender mit kreativen Freiheiten ausgestattet wird.

Der 892. Tatort lebt aber nicht nur von seinem erstklassigen Drehbuch, sondern auch von seinen glänzend aufgelegten Schauspielern, zu denen auch Sesamstraßenlegende Horst Janson und Victoria von Trauttmannsdorff (Schwindelfrei) zählen: Allein die formidabel aufspielende Lavinia Wilson (Falsches Leben) ist das Einschalten wert. Die Grimme-Preis-Trägerin brilliert in der Rolle als eiskalter Engel und wandelt sich binnen Sekunden von der bemitleidenswerten Einzelgängerin zum perfiden Täuschungsprofi. Die beste Szene gehört dennoch Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügeler): Der hantiert diesmal im Büro leichtsinnig mit einer Schusswaffe und ballert Brandt im Nebenzimmer fast vom Bürostuhl.

Neben solchen gröberen, aber vortrefflich zündenden Gags sind es auch die gewohnt subtil eingeflochtenen, humorvollen Zwischentöne, die Borowski und der Engel als Gesamtkomposition zu dem Tatort-Highlight des Jahres 2013 machen und zu diesem Zeitpunkt die Spitzenposition des Krimis aus der Fördestadt – der in den Jahren davor nie enttäuscht hat – in bemerkenswerter Manier zementieren. Hut ab!

Bewertung: 9/10

Die fette Hoppe

Folge: 891 | 26. Dezember 2013 | Sender: MDR | Regie: Franziska Meletzky
Bild: MDR/Andreas Wünschirs
So war der Tatort:

Kugelrund.

Die Weimarer Kriminalkommissarin Kira Dorn (Nora Tschirner) präsentiert in Die fette Hoppe nämlich neunzig Minuten lang ihren Babybauch – doch auch sonst ist das Debüt von Tschirner und ihrem Tatort-Partner Christian Ulmen, mit dem sie schon häufig auch für Kinoproduktionen vor der Kamera stand, eine durch und durch runde Sache.

Die Erwartungen an den im Vorfeld zunächst als einmaligen "Event-Tatort" angepriesenen Krimi, dessen Fortsetzung schnell beschlossene Sache war, hätten höher kaum ausfallen können: Das Ausstrahlungsdatum am 2. Weihnachtstag ist umkämpft wie kaum ein zweiter Termin im Jahr, die Besetzung der Hauptrollen prominent und Regisseurin Franziska Meletzky bereits mehrfach tatorterprobt (zuletzt inszenierte sie den Lindholm-Doppelpack Wegwerfmädchen und Das goldene Band).

Auch beim Drehbuch geht der MDR auf Nummer sicher: Murmel Clausen schrieb unter anderem das Skript zum Mega-Kinoerfolg Der Schuh des Manitu und sein Autorenkollege Andreas Pflüger arbeitet mit Die fette Hoppe bereits zum 18. Mal an einem Fadenkreuzkrimi mit.

Diese Maßnahmen zahlen sich aus: Trotz eines klassischen Fehlstarts, bei dem die hochschwangere Dorn ihrem vornamenlosen Kollegen Lessing im Schwitzkasten eines Geiselnehmers ein plump vom damals werdenden Vater und späteren ARD-Fußballexperten Mehmet Scholl abgekupfertes Zitat zum Besten gibt ("Mir ist völlig egal, was es wird. Hauptsache er ist gesund."), laufen Tschirner und Ulmen mit zunehmender Spieldauer zu Hochform auf und hauen sich die meist mehr, selten weniger amüsanten One-Liner fast im Minutentakt um die Ohren.


DORN:
Sie sollten doch bei der Leiche bleiben!

LESSING:
Joa. Die läuft doch nicht weg, Frau Dorn!


Der Tatort aus Münster lässt grüßen – doch während Thiel und Boerne als Figuren in die Jahre gekommen sind und immer seltener an die Klasse früherer Tage anknüpfen, sind die neuen Kollegen aus Weimar naturgemäß noch völlig unverbraucht.

Als besonders gelungener Coup erweist sich die Entscheidung der Filmemacher, dem Publikum zunächst zu verschweigen, dass Lessing und Dorn liiert sind und das Baby das gemeinsame der Kommissare ist – der verblüffende Paukenschlag im Mittelteil des Films ist ein wahrer Geniestrich und legt den Grundstein für weitere amüsante Folgen aus der Dichterstadt.

Mit einem Tatort der alten Schule hat das natürlich wenig zu tun: Die tiefgefrorene Leiche, die weitergereicht wird wie eine Schaufensterpuppe, finden Lessing und Dorn erst nach einer Stunde, Auflösung und Täterfrage sind zweitrangig und der auffallend ironische Kontrapunkt zum ernsten Rest der Krimireihe ist hier der Schlüssel zum Erfolg. Dabei fügen sich auch Kriminalhauptkommissar Kurt Stich (Thorsten Merten, Der tote Chinese) und Kriminaltechniker Hans Bangen (Wolfgang Maria Bauer, Nie wieder frei sein) stimmig ein, wenngleich sie den Kinostars Tschirner und Ulmen erwartungsgemäß das Feld überlassen.

Wer Spannung sucht, wird in Weimar allerdings keine finden: Verfolgungsjagden absolvieren die Ermittler in der gemütlichen Kutsche des tatverdächtigen Caspar Bogdanski (Dominique Horwitz, Schatten), während im Motorraum des Dienstwagens tote Nager verwesen (Dorn: "Sieht mir nach 'nem klassischen Selbstmarder aus!"). Dennoch: Die fette Hoppe ist eine unterhaltsame und stellenweise brüllend komische Krimi-Persiflage, die den hohen Erwartungen trotz der flachen Spannungskurve gerecht wird und den Kollegen aus Münster den Fehdehandschuh hinwirft.

Bewertung: 7/10

Allmächtig

Folge: 890 | 22. Dezember 2013 | Sender: BR | Regie: Jochen Alexander Freydank
Bild: BR/hager moss film GmbH/Bernd Schuller
So war der Tatort:

Anklagend.

Denn Regisseur und Oscargewinner Jochen Alexander Freydank, der nach dem Kriegsheimkehrer-Krimi Heimatfront zum zweiten Mal für einen Tatort am Ruder sitzt, und die drei Drehbuchautoren Harald Göckeritz, Gerlinde Wolf und Edward Berger holen in Allmächtig zum großen Rundumschlag aus – doch nicht etwa gegen seichten ZDF-Schund wie Das Traumschiff oder gebührenfinanzierte ARD-Soaps wie Verbotene Liebe, sondern gegen Reality-Formate, die im Privatfernsehen des Jahres 2013 das Programm dominieren und vermeintlich realistische Einblicke in den Alltag bildungsferner Schichten gewähren. 

Böse Privatsender!

Ähnlich simpel und einseitig wie bei dieser pauschalen Anklage verfahren die Filmemacher bei ihrer Figurenzeichnung: Klischees und Schwarz-Weiß-Malerei, wohin man blickt. Es gibt die Guten – die bedauernswerten, bloßgestellten Opfer – und natürlich die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl). Und es gibt das Böse, das sich in Allmächtig in einer einzigen Person, dem fleischgewordenen TV-Teufel Albert A. Anast (Alexander Schubert), konzentriert. 

Der arrogante und skrupellose Entertainer, der den Satan als Anagramm im Nachnamen trägt und in den Türcode seiner sündhaft teuer eingerichteten Wohnung die Zahlen "666" unterbringt, scheut für ein paar mehr Videoklicks im Netz keine moralischen Hindernisse, führt seine Mitmenschen reihenweise vor der Kamera vor und kann vom Zuschauer eigentlich nur abgrundtief verachtet werden. Dann ist er plötzlich verschwunden – und eines seiner Opfer tot.

Man muss kein großer Prophet sein, um zu erahnen, dass der selbsternannte Entertainer den Mord an der Messi-Finanzbeamtin Maria Kohlbeck (Katja Brenner), die Zuflucht bei Pfarrer Fruhmann (Ernst Stötzner, Heimspiel) und Pater Rufus (Albrecht Schuch) gesucht hatte, nicht begangen hat. Schnell ist die zweite Leiche gefunden – und wenn der Tatort Allmächtig heißt, dann ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Weg zur Auflösung der Täterfrage nur über Gesangsbuch und Weihwasser führt.

Batic und Leitmayr, die 2011 in Ein ganz normaler Fall bereits zu einem spannungsarmen Crashkurs in Sachen Judentum genötigt wurden, lernen bei ihrem 66. gemeinsamen Einsatz neben dem beinharten Konkurrenzkampf innerhalb einer TV-Produktionsfirma auch viel Neues über angestaubte Exorzismuspraktiken aus dem Mittelalter, die sich bis in die deutsche Gegenwart gehalten haben. Spaß machen aber eher die bissigen One-Liner von Batic ("Auf was für Ideen man kommt, wenn man keinen Sex hat.") und die verbitterten Kommentare der gefrusteten Anast-Kollegin Ines Lohmiller (Claudia Hübschmann), die dem Erfolgsmoderator genauso wenig Tränen nachweint wie der Rest seiner Mitmenschen.

Zu denen zählt auch der Mörder, der im furchtbar konstruierten Finale in letzter Sekunde von den Kommissaren vor dem sicheren Flammentod bewahrt wird und den Krimi mit unfreiwillig komischen Monologen endgültig die Bodenhaftung verlieren lässt. Allmächtiger! Einen so enttäuschenden Tatort gab es aus München seit Jahren nicht mehr. Da rettet auch der Gastauftritt des früheren Saarbrücker Tatort-Kommissars Gregor Weber (letzter Auftritt im Meilenstein Verschleppt) am Ende wenig.

Bewertung: 4/10

Schwindelfrei

Folge: 889 | 8. Dezember 2013 | Sender: HR | Regie: Justus von Dohnányi
Bild: HR/Katrin Denkewitz
So war der Tatort:

Tumorfrei.

Denn LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) kann endlich aufatmen: Der Tumor, dessen Anagramm ihm seinen Nachnamen bescherte, ist Geschichte!

Surreale Träume und morbide Wahrnehmungsstörungen hatten den Kommissar vor allem in Das Dorf geplagt, als ihm Regisseur und Drehbuchautor Justus von Dohnányi (Eine bessere Welt) sogar sein eigenes Gehirn auf einem Silbertablett servierte und viele Zuschauer mit seiner musiklastigen und eigenwilligen Krimigroteske (Auftritt der Kessler-Zwillinge inklusive) fulminant vor den Kopf stieß.

Dass Das Dorf von großen Teilen der Presse gefeiert und sogar für einen Grimme-Preis nominiert wurde, scheint sich von Dohnányi weniger zu Herzen genommen zu haben als die irriterten Publikumsreaktionen – Murots dritter Einsatz, bei dem der Filmemacher erneut am Ruder sitzt, ist nicht ansatzweise so mutig und ausgefallen wie der Vorgänger, man möchte fast sagen: Schwindelfrei ist enttäuschend gewöhnlich.

Eine klassische Whodunit-Konstruktion (mit einer vermissten Frau statt der üblichen Auftaktleiche), biedere Ermittlungsarbeit, langatmige Dialoge und eine erschreckend vorhersehbare Auflösung: Einmal mehr ist der prominenteste Nebendarsteller im Tatort der Mörder und sein Tatmotiv früh zu erahnen – es führt zurück in die Zeit des Kosovo-Krieges, der im Tatort bei weitem nicht zum ersten Mal aufgegriffen wird (zuletzt im Wiener Meisterwerk Kein Entkommen).

Dass der 889. Fadenkreuzkrimi trotz dieser inhaltlichen Schwächen zu unterhalten weiß, liegt an seiner knallbunten Verpackung und seinem nostalgieschwangeren Schauplatz: Er spielt zu großen Teilen in einer Zirkusmanege.


ZIRKUSDIREKTOR:
Wir leben hier auf einer kleinen einsamen Insel.


Der Zirkus Raxon, dem Murot in Fulda gemeinsam mit seiner Sekretärin Magda Wächter (Barbara Philipp) zur Feier der einleitenden Diagnose einen Besuch abstattet und von prompt von Bauchredner Buca (Jevgenij Sitochin, Der Tote im Nachtzug) zum Spontangesang in die Manege gebeten wird, bildet einen interessanten und originellen, wenn auch nicht gänzlich von der Außenwelt abgeriegelten Mikrokosmos.

Wir werden entführt in eine bunte, eigene Welt, in der einer der Angestellten um Buca, Pianist Charly (Leonard Carow, Mord auf Langeoog), Zirkusdirektor Raxon (Josef Ostendorf, Sterben für die Erben), Messerwerfer Frank (Uwe Bohm, Es ist böse), der hünenhafte Ex-Ringer Zoltan (Norbert Heisterkamp, Bittere Mandeln), Sängerin Rosalie (Zazie de Paris, später Stammgast im Frankfurter Tatort) oder Artistin Caja (Dorka Gryllus, Familienaufstellung) ein finsteres Geheimnis verbirgt.

Weil sich nur einer der Angestellten (auch unabhängig von seinem prominenten Gesicht) als Täter aufdrängt, plätschert der Krimi vor allem im Mittelteil lange vor sich hin – Twists und doppelte Böden, die gerade einem verspielten Zirkus-Tatort gut zu Gesicht gestanden hätten, bleiben leider aus.

Erst auf der Zielgeraden kommt Schwindelfrei in Schwung: Murot, der sich zuvor als Aushilfspianist im Zirkus eingeschleust hatte, schleicht in bester 007-Manier als Clown ins Rampenlicht – in etwa so, wie es 1983 James Bond (Roger Moore) in Octopussy tat, als er im gleichnamigen Zirkus in letzter Sekunde vor den Augen des ahnungslosen Publikums eine tickende Zeitbombe entschärfte.

Trotz der großen Zugeständnisse an das klassische Tatort-Konzept lässt sich Justus von Dohnányi im Übrigen einen amüsanten Seitenhieb auf den Rest der Krimireihe nicht nehmen: Murot schaut den berühmten Tatort-Vorspann in seinem Hotelzimmer – und just in dem Moment, als die Geschichte des Krimis beginnt, schaltet er den Fernseher gelangweilt ab. Volltreffer.

Bewertung: 5/10

Happy Birthday, Sarah

Folge: 888 | 1. Dezember 2013 | Sender: SWR | Regie: Oliver Kienle
Bild: SWR/Stephanie Schweigert
So war der Tatort:

Überholt von der schwäbischen Realität.

Staatsanwältin Emilia Álvarez (Carolina Vera) dürfte nämlich so ziemlich die Einzige sein, die bei der TV-Premiere des Krimis am 1. Adventssonntag 2013 im piekfeinen Restaurant des Stuttgarter Fernsehturms bei prächtigem Ausblick zu Abend diniert: Kurz nach dem Abschluss der Dreharbeiten von Happy Birthday, Sarah wurde der Touristenmagnet wegen Brandschutzgefahr für die Öffentlichkeit geschlossen  und aus Kostengründen lange Zeit nicht mehr geöffnet.

Diese für das ortskundige Fernsehpublikum unfreiwillig amüsante Szene bleibt beim 13. gemeinsamen Einsatz der Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) aber der einzige Fauxpas: Regisseur und Tatort-Debütant Oliver Kienle inszeniert einen grundsoliden und für Stuttgarter Verhältnise überraschend humorvollen, mit lässigen One-Linern gespickten Tatort, der auch im Hinblick auf die Skizzierung der heutigen Jugend erfreulich authentisch ausfällt.

Anders als viele Drehbuchautoren der jüngeren Vergangenheit – man denke zurück an die peinlichen Tatort-Katastrophen Der Wald steht schwarz und schweiget oder Dinge, die noch zu tun sind – zeichnet Wolfgang Stauch (Die schöne Mona ist tot) erfreulicherweise keine müden Teenager-Stereotypen: Der Drehbuchautor nötigt die Jungdarsteller im Jugendzentrum "Klaus' Haus", in dem Sozialarbeiter Andreas Haber (Nikolaj Alexander Brucker, Ohne Beweise) einleitend in der Toilettenschüssel ertränkt wird, nicht zu pseudocoolen Sprüchen und realitätsfernem Gehabe, und der junge Filmemacher Kienle räumt seiner Hauptdarstellerin Ruby O. Fee bei der Interpretation ihrer titelgebenden Hauptfigur Sarah großen Freiraum ein.

Sarah ist erwartungsgemäß nicht die Täterin – stattdessen einmal mehr eine Nebenfigur, die im Mittelteil des Krimis aus dem Blickfeld gerät und sich in typischer Tatort-Manier pünktlich zur Auflösung wieder in den Vordergrund drängt. Nachwuchsdarstellerin Fee ist dennoch der unumstrittene Star im 888. Tatort und bringt die heranwachsende Rebellin, die die letzten verbleibenden Tage vor der Strafmündigkeit für falsche Geständnisse und Kurzschlussreaktionen nutzt, charismatisch und glaubwürdig auf die Mattscheibe.

Es macht Spaß, ihrer aufmüpfigen Sarah dabei zuzusehen, wie sie die genervten Hauptkommissare mit ihrer Sturheit zur Weißglut bringt und sich in den emotionalen Streitgesprächen mit ihrer Schwester, der personifizierten Stuttgarter Unterschicht Jeanette (Britta Hammelstein, Willkommen in Hamburg) und deren wild tätowiertem Lover Ronald (Antonio Wannek, Todesschütze, "Na, zurück in der Hölle des Löwen?") behaupten kann.

Weit weniger unterhaltsam gestalten sich die schleppenden Familienszenen von Neu-Single Bootz und seinen Kindern: Vor allem der freche Sohnemann, der das Handy des gestressten Kommissars in der Badewanne versenkt und dem Papa bei einer Festnahme vom Streifenwagen aus zujubelt, erinnert stark an den nervtötenden Präsidiumskasper Giuliano (Joshua Jacobs) aus der grauenvollen Odenthal-Folge Der Schrei, wird von seinem Erzieher aber mit bemerkenswerter Geduld umsorgt.

Der Bootzsche Familienkitsch bleibt jedoch das einzige größere Manko eines ansonsten guten Fadenkreuzkrimis: Happy Birthday, Sarah macht einfach Laune und nutzt Sarahs minütlich näher rückende Strafmündigkeit auf der Zielgeraden für einen knackigen Countdown. Da hat man im Tatort-Jahr 2013 wahrlich schon Schlechteres gesehen.

Bewertung: 7/10

Mord auf Langeoog

Folge: 887 | 24. November 2013 | Sender: NDR | Regie: Stefan Kornatz
Bild: NDR/Boris Laewen
So war der Tatort:

Friesisch unterkühlt – und leider bei weitem nicht so witzig wie der bärenstarke Hamburger Vorgänger Feuerteufel.

Eine steife Brise weht am Sandstrand der beschaulichen Nordsee-Insel Langeoog, auf die es Hauptkommissar Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und seine Kollegin Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller), die ab 2014 bundesweit ermitteln, bei ihrem zweiten gemeinsamen Einsatz verschlägt – dabei wollte der Kommissar und Katzenliebhaber eigentlich nur ein paar Urlaubstage bei seinem Kumpel und Ex-Kollegen Jan Katz (Sebastian Schipper) und dessen Frau Mimi Meinders (Laura Tonke, Schlafende Hunde) verbringen.

Falkes Freunde haben sich aus der Hansestadt verabschiedet und sind zurück in ihre ostfriesische Heimat gekehrt – und dort ermittelt Falke, der die kompletten neunzig Minuten einen modisch durchaus diskutablen Norwegerpulli trägt, im Fall der ermordeten Künstlerin Bella Goosen (Julia Jessen), deren Leiche morgens in den malerischen Dünen gefunden wird.

Die tollen Kameraflüge über das UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer und die scheinbar endlosen Sandstrände des Eilands, die der leinwanderprobte Kameramann Bernhard Keller in tollen Panoramen einfängt, sind aber auch schon das stärkste an Mord auf Langeoog: Regisseur Stefan Kornatz (Es ist böse) und Drehbuchautor Max Eipp (Salzleiche) gelingt es viel zu selten, ihren windig-unterkühlten Küstenkrimi auf Betriebstemperatur zu bringen.

Selbst auf der Zielgeraden, auf der einmal mehr die Kommissarin (sonst meist Lena Odenthal, vgl. Der kalte Tod, Hauch des Todes oder Der Wald steht schwarz und schweiget) aus den Händen des Täters gerettet werden will, kommt der 887. Tatort nicht mehr recht in Fahrt.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Filmemacher viel zu stark auf ihren Hauptverdächtigen konzentrieren: Der verwirrte Florian (Leonard Carow, Dinge, die noch zu tun sind), jüngerer Bruder von Mimi Meinders, wacht blutverschmiert und ohne Erinnerung an die zurückliegende Nacht neben der toten Frau auf – und scheidet damit als Täter praktisch aus. Denn wenn der vermeintliche Mörder direkt neben der Leiche aufgefunden wird – man denke zurück an Prof. Boerne (Jan Josef Liefers) in Die chinesische Prinzessin – dann ist es im Tatort so sicher wie das Amen in der Kirche, dass jemand anders das Opfer auf dem Gewissen hat. Wäre schließlich viel zu einfach.

So wird Mord auf Langeoog im Mittelteil zwar zu einem authentischen Psychogramm, in dem Carow sein schauspielerisches Potenzial unter Beweis stellen kann, doch auf der Zielgeraden steht der Tatort vor einem Problem: Ein Mörder muss her, obwohl die Charakterzeichnung der übrigen Nebenfiguren vollkommen vergessen wurde. Was passiert also? Täter und Motiv werden im Schnellverfahren nachgereicht – eine überraschende, aber mit der Brechstange konstruierte Auflösung, die viel ausführlicher hätte vorbereitet werden müssen.

Auch das Gastspiel der früheren Frankfurter Tatort-Kommissarin Nina Kunzendorf, die in Wer das Schweigen bricht ihren Abschied feierte und als Auricher Kollegin Christine Brandner mit von der Partie ist, fällt im Vergleich zu ihren vorherigen Tatort-Auftritten harmlos aus. Immerhin: Dank der übergroßen Nerd-Brille ist für Stammzuschauer eine Verwechslung mit der charismatischen Power-Tussi Conny Mey ausgeschlossen.

Bewertung: 5/10

Eine andere Welt

Folge: 886 | 17. November 2013 | Sender: WDR | Regie: Andreas Herzog
Bild: WDR/Thomas Kost
So war der Tatort:

Scherbenreich.

Dass Hauptkommissar und Vorzeige-Arschloch Peter Faber (Jörg Hartmann) gerne mal seinen Schreibtisch samt Arbeitseinrichtung zertrümmert, weiß der Zuschauer spätestens seit seinem spektakulären Abgang im zweiten Dortmunder Tatort Mein Revier – und in Eine andere Welt setzen Regisseur Andreas Herzog (Scheinwelten) und Drehbuchautor Jürgen Werner, der bereits an Mein Revier und dem Faber-Erstling Alter Ego mitschrieb, sogar noch einen drauf. Faber zerlegt das Waschbecken auf der Herrentoilette des Präsidiums in seine Einzelteile, lässt die Scherben liegen und kotzt gepflegt in die Kloschüssel – und das alles nur, weil ihn seine Vergangenheit einholt.

Was sich in den Schlussminuten von Mein Revier mit einem anonymen Brief bereits angedeutet hatte, setzt sich im 886. Tatort fort: Den Dortmunder Teamchef, der seine Kollegen Martina Bönisch (Anna Schudt), Daniel Kossik (Stefan Konarske) und Nora Dalay (Aylin Tezel) auch diesmal wieder wie den letzten Dreck behandelt, belastet der Tod seiner Familie, der seinen dritten Einsatz in der Ruhrpott-Metropole zugleich zu seinem bis dato persönlichsten macht.

Seine privaten Nachforschungen über den noch nicht bis ins Detail aufgeklärten Tod seiner Frau und Tochter sind aber nur einer der Nebenkriegsschauplätze, die den ansonsten angenehm bodenständigen und authentischen Fall immer wieder vom Kurs abbringen. Wenn Kossik und Dalay minutenlang darüber debattieren, ob sie nun gemeinsam zu einer türkischen Hochzeit gehen sollen oder nicht, gerät der Tod der umtriebigen Gymnasiastin Nadine Petzokat (Antonia Lingemann) vorübergehend aus dem Blickfeld.

Immerhin: Das Alter der beiden Jungermittler, die diesmal zu deutlich weniger GZSZ-Dialogen genötigt werden als in den beiden Vorgängerfolgen, zahlt sich im dritten Dortmunder Fadenkreuzkrimi erstmalig aus. Die kesse Dalay ermittelt undercover in einem Nobelclub, in dem die deutlich älteren Faber ("Der Slip muss weg!") oder Bönisch ("Der Slip bleibt, wo er ist!") unter den jungen Partygästen und Schnöseln sofort aufgefallen wären, und wird von den tatverdächtigen Konstantin Prinz (Sergej Moya, herausragend in Hilflos) und Lars von Hesseling (Anton Rubtsov) sofort zum Wodkatrinken eingeladen.

Das wirkt zwar nicht vollends glaubhaft, ist aber einer der besseren Einfälle von Drehbuchautor Jürgen Werner, der ansonsten auf eine konstruierte Häppchentaktik setzt: Hätten sich Faber & Co. das Videotagebuch der ermordeten Schülerin und ihrer besten Freundin Julia Nowak (Matilda Merkel, Spargelzeit) – Found-Footage-Hits wie das Blair Witch Project oder Cloverfield lassen grüßen – einfach sofort angesehen, wäre der Mord schon nach zehn Minuten aufgeklärt gewesen. In einem Kölner Tatort hätten Ballauf und Schenk ihre Assistentin Franziska wohl einfach zur einer Nachtschicht verdonnert (wie z.B. in Blutdiamanten), denn das Tatmotiv wird tatsächlich im letzten der zahlreichen Videoclips gelüftet.

Die Dortmunder Ermittler aber schauen immer mal wieder rein, wenn gerade Zeit ist, als gäbe es weitaus Wichtigeres zu erledigen – das leuchtet nicht ein und ist allein dem Spannungsaufbau und der Zurückhaltung der Auflösung geschuldet. Anders würde Eine andere Welt schlichtweg nicht funktionieren. Spaß macht der Tatort dennoch – nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen One-Liner auf Stromberg-Niveau.


FABER:
Jetzt machen Sie mal nicht den Akten-Nazi!"


Bewertung: 6/10

Kalter Engel

Folge: 885 | 3. November 2013 | Sender: MDR | Regie: Thomas Bohn
Bild: MDR
So war der Tatort:

Auf jung getrimmt

Denn in Kalter Engel feiert das jüngste Tatort-Team aller Zeiten sein Debüt: In Erfurt ermitteln erstmalig Hauptkommissar Henry Funck (Friedrich Mücke, Heimatfront), Oberkommissar Maik Schaffert (Benjamin Kramme) und Polizei-Praktikantin Johanna Grewel (Alina Levshin), die den beiden Jungbullen von Kriminaldirektorin Petra Fritzenberger (Kirsten Block, Edel sei der Mensch und Gesund) zur Seite gestellt wird. 

Ein mutiges, weil ausgefallenes Konzept, keine Frage: Doch Funck, Schaffert und Grewel hätten eigentlich viel besser ins Team der SK-Babies gepasst, die – die älteren Leser werden sich vielleicht erinnern – von 1996 bis 1999 bei den Kollegen von RTL auf Verbrecher und den Zuschauer losgelassen wurden. 

Qualitativ hebt sich der neue Tatort aus der thüringischen Landeshauptstadt kaum von dieser gruseligen, zu Recht schnell in Vergessenheit geratenen RTL-Produktion ab: Funck und Schaffert kippen im Präsidium literweise Energydrinks, schleudern wild mit Anglizismen um sich ("Fuck and Go oder was?") und sind von Regisseur und Drehbuchautor Thomas Bohn (Tod im All) so fürchterlich auf cool getrimmt, dass Kalter Engel schon nach wenigen Minuten zur ärgerlichen Geduldsprobe wird. 

Das beste am 885. Tatort ist noch die einleitende Verfolgung des mutmaßlichen Frauenmörders Roman Darschner (Godehard Giese, Leben gegen Leben): Nicht etwa aufgrund der knackigen Actionszenen (die Inszenierung fällt eher bieder aus), sondern schlicht und einfach deshalb, weil zu diesem frühen Zeitpunkt des Films noch alle die Klappe halten. 

Ob Funcks müder Currywurst-Flirt mit der hübschen Valerie (Karoline Schuch, auch bekannt als Freddy Schenks Tochter Melanie aus dem Kölner Tatort), Fritzenbergers tadelnde Worte im Präsidium oder die schier unerträglichen, pseudo-tiefsinnigen Zwischenresümees der beiden Kommissare: Die Dialoge sind hölzerner als eine finnische Sauna und wirken so himmelschreiend aufgesetzt, dass jeder Anspruch an einen halbwegs authentischen und spannenden Kriminalfall schon nach wenigen Minuten getrost zu den Akten gelegt werden kann. 

Kalter Engel mangelt es auch einfach an einem interessanten Thema: Frauenmörder, die keine sind, Eifersucht unter Mitbewohnerinnen, Medikamentenmissbrauch – das alles hat man im Tatort schon um Längen besser gesehen. Von Land und Leuten – für eine Kleinstadt wie Erfurt gleich doppelt wichtig, will sie sich mittelfristig in der unübersichtlichen Tatort-Landschaft behaupten – ist indes wenig zu spüren: Ein paar Außendrehs an der örtlichen Uni, eine Dialekt sprechende SpuSi-Kollegin – das war's. 

Stattdessen war die Requisite im Fan-Shop von Rot-Weiß-Erfurt einkaufen: In Studentenspinden baumeln einsame Vereinswimpel, Schaffert trinkt seinen Kaffee (Koffein kann man offenbar nie genug haben) aus einer Tasse mit RWE-Logo und spielt mit unerträglicher Penetranz an einem handsignierten Lederfußball herum, den man den Kommissaren nach dem siebten oder achten "Alter!" am liebsten mit Karacho ins Gesicht feuern würde.

Das Debüt des jüngsten Ermittlerteams aller Zeiten geht mit Pauken und Trompeten in die Hose: Der zu allem Überfluss auch noch völlig nichtssagend betitelte Kalter Engel ist einer der schwächsten Fadenkreuzkrimis des Jahres 2013 – und zugleich schon der vorletzte Einsatz des neuen Trios, das nach dem ähnlich schwachen Nachfolger Der Maulwurf das Handtuch wirft und den Dienst quittiert.

Bewertung: 2/10

Aus der Tiefe der Zeit

Folge: 884 | 27. Oktober 2013 | Sender: BR | Regie: Dominik Graf
Bild: BR/Frederic Batier
So war der Tatort:

Typisch Graf

Geschlagene achtzehn Jahre hat sich der zehnfache Grimme-Preis-Gewinner Dominik Graf Zeit gelassen, um nach Schwarzes Wochenende (1986) und dem vieldiskutierten Meilenstein Frau Bu lacht (1995) mal wieder einen Tatort zu inszenieren, doch das Warten hat sich gelohnt: In der Zwischenzeit hat der von der Kritik gefeierte, vom Publikum aber oft unverstandene Filmemacher nicht nur herausragende TV-Serien wie Im Angesicht des Verbrechens oder einige starke Folgen der Polizeiruf 110-Reihe realisiert, sondern sich auch als Regisseur eine ganze Ecke weiterentwickelt. 

Blieb der vergleichsweise bieder inszenierte Frau Bu lacht vor allem aufgrund der Brüche mit den obersten Tatort-Prinzipien und seines mutigen Showdowns, bei dem die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) einer überführten Mörderin zur Flucht in ihr Heimatland Thailand verhelfen, nachhaltig im Gedächtnis haften, bewegt sich Aus der Tiefe der Zeit schon allein stilistisch auf einem ganz anderen Niveau. Graf stürmt förmlich in seine Geschichte hinein und stößt das unvorbereitete Publikum mit knackigen Parallelmontagen, anstrengenden Ton-Bild-Scheren und einem nebulösen Blick in die Vergangenheit kolossal vor den Kopf.

Ein extrem anstrengender Auftakt – und auch in der Folge gestattet das Drehbuch von Grafs langjährigem Weggefährten Bernd Schwamm (Die apokalyptischen Reiter) dem Zuschauer kaum einen Moment der Ruhe. Selbst Leitmayrs einleitende Wohnungssuche im Münchner Westendviertel, das aufgrund der ärgerlichen Navi-Ansagen zur Odyssee wird, verpacken die beiden Filmemacher als Wettlauf gegen die Zeit – dabei ist die Leiche zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gefunden und der Kommissar lediglich auf der Suche nach einer vorübergehenden Bleibe, weil es im eigenen Domizil einen Wasserschaden gegeben hat.

Von der mutigen Radikalität und inhaltlichen Klasse des Graf-Vorgängers Frau Bu lacht ist der 884. Tatort ein gutes Stück entfernt – dafür ist die Geschichte zu überfrachtet und das Krimikorsett, in das Graf seine Geschichte steckt, zu allgegenwärtig. Dennoch: Aus der Tiefe der Zeit ist ein erstklassig inszeniertes und gekonnt arrangiertes Familiendrama im Schafspelz, in dem vor allem die charismatische Erni Mangold (Nie wieder Oper) als schwerreiches Familienoberhaupt Magda Holzer zu großer Form aufläuft.

Die ehemalige Zirkuslegende ballert im Garten ihres mondänen Anwesens auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, so dass sich das Publikum bisweilen fast vorkommen mag wie in einem Italo-Western. Dieser Eindruck verstärkt sich auch dadurch, dass der leinwanderprobte Kameramann Alexander Fischerkoesen (Schwarzer Peter) immer wieder ohne Vorwarnung in die Gesichter der Protagonisten zoomt, während der bildgewaltige Showdown fast an eine antike Tragödie erinnert: Das Schwimmbecken färbt sich rot, die Holzersche Villa wird in ihren Grundfesten erschüttert und die Münchner Hauptkommissare müssen machtlos dabei zusehen.

Nicht nur wegen dieses blutigen und dramatischen Showdowns ist aus Aus der Tiefe der Zeit ein echtes Tatort-Erlebnis. Das schmeckt vor allem dem konservativen und an den inszenatorischen TV-Einheitsbrei gewöhnten Publikum weniger, doch aus der Masse der Standardkrimis sticht Grafs dritter Tatort deutlich heraus.

In Nebenrollen zu sehen sind dabei übrigens die spätere Berliner Tatort-Kommissarin Meret Becker (Debüt 2015 in Das Muli) und der frühere Saarbrücker Tatort-Kommissar Maximilian Brückner (letzter Auftritt in Verschleppt), der 2011 im Zuge einer medialen Schlammschlacht vor die Tür gesetzt wurde: Man muss zweimal hinsehen, um den Blondschopf als homosexuellen Edel-Coiffeur mit offenem Ohr für entscheidende Hinweise auf den Mörder in diesem tollen Tatort wiederzuerkennen.

Bewertung: 8/10

Die chinesische Prinzessin

Folge: 883 | 20. Oktober 2013 | Sender: WDR | Regie: Lars Jessen
Bild: WDR/Willi Weber
So war der Tatort:

Fast vollkommen witzlos – und damit als Tatort-Folge aus Münster ziemlich bemerkenswert

Ob es am knapp ein Jahr zurückliegenden, von Fans und Kritikern gleichermaßen abgelehnten Klamaukfeuerwerk Das Wunder von Wolbeck gelegen hat, dass der WDR eine Kurskorrektur hin zu mehr Ernsthaftigkeit vorgenommen hat? Oder war er es einfach mal Zeit für einen nachdenklichen Moment? 

Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) geben sich bei ihrem 24. gemeinsamen Fall jedenfalls so witzlos wie nie – was nicht zuletzt daran liegt, dass der Professor selbst ins Visier der Ermittlungen gerät und zum Beispiel die obligatorischen Witzeleien über Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) am Sektionstisch ausfallen. Nach einem Techtelmechtel im Anschluss an eine Vernissage wird die chinesische Künstlerin Songma (Huichi Chiu) ermordet in der Rechtsmedizin aufgefunden - und neben der Leiche liegt der Professor, vollgepumpt mit Drogen und ohne Erinnerungsvermögen an die letzte Nacht. 

Für Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) scheint der Fall klar, für Thiel natürlich nicht, und so darf mal wieder fleißig gegen den eigenen Kollegen ermittelt werden: Das gleiche Schicksal blühte zuletzt unter anderem dem Münchener Kommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) in Der traurige König und dem Kölner Ermittler Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) in KlassentreffenWenn Krimi-Autoren – hier: Orkun Ertener (Väter) – die Ideen ausgehen, involvieren sie eben gern mal die Ermittler selbst in die Straftat. Zumindest wird nicht schon wieder Lena Odenthal verschleppt (vgl. Der kalte Tod, Hauch des Todes oder Der Wald steht schwarz und schweiget).

Die Gags in Die chinesische Prinzessin lassen sich an einer Hand abzählen: Keine Witze über Alberich, keine rauchende Staatsanwältin, kein kiffender Herbert "Vattern" Thiel (Claus Dieter Clausnitzer), aber leider auch kein Aha-Erlebnis nach dem einleitenden Rotwein-Abend von Thiel und Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter): Mit dem Glauben, seine hübsche Assistentin tatsächlich in die Horizontale gebeten zu haben, steht der Kommissar ziemlich alleine da – der Zuschauer ahnt sofort, dass Nadeshda allenfalls auf der Thielschen Couch geschlafen hat. So verpufft dieser Drehbuchkniff wirkungslos und Nadeshdas unüberlegtes Auslachen des ewigen Junggesellen wird durch flapsige Sprüche und versöhnliche Worte zusätzlich weichgespült.

Ansonsten ist die ernsthafte Grundausrichtung des Krimis zwar interessant, aber nicht vollends überzeugend: Wenn sich der am Ende (natürlich) entlastete Boerne bei seiner gerührten Helferin bedankt und sie nicht spöttisch mit "Alberich", sondern mit "Frau Haller" anspricht, ist das zwar ein denkwürdiger Münsteraner Moment, entscheidend aufwerten tut er den 883. Tatort aber nicht. 

Denn die Geschichte, in der es vor gewohnt unsympathischen BKA-Störenfrieden, tätowierten Mafiamitgliedern und chinesischen Regimekritikern nur so wimmelt, fällt nicht nur reichlich konfus, sondern auch eine Nummer zu groß und international aus. Da kann der diesmal politisch auffallend inkorrekte Hauptkommissar, der den tatverdächtigen chinesischen Diplomaten Wang Yijaian (Maverick Quek) grundlos als "Frühlingsrolle" beschimpft, noch so oft darüber witzeln, dass der Geheimdienst ausgerechnet auf die beschauliche Studentenstadt ein Auge geworfen haben soll.


THIEL:
Ping-Pang-Pung, Tsching-Tschang-Tschung, Sie wissen schon!


Bewertung: 5/10

Freunde bis in den Tod

Folge: 882 | 6. Oktober 2013 | Sender: SWR | Regie: Nicolai Rohde
Bild: SWR/Stephanie Schweigert
So war der Tatort:

Virtuell.

Denn zehn Minuten vor Günther Jauchs anschließender Talksendung zeigt die ARD nun mal keinen Massenmord mehr – es sei denn, es steht ein entsprechender Themenabend auf dem Programm. Steht er am 6. Oktober 2013 aber nicht, und daher können die Hauptkommissare Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Mario Kopper (Andreas Hoppe) den Amoklauf eines Schülers, der die Tat seines verstorbenen Freundes in Freunde bis in den Tod fortsetzen will, natürlich in letzter Sekunde vereiteln

Kein erschütterndes Ende wie im thematisch ähnlich gelagerten, beklemmenden Familiendrama We Need To Talk About Kevin oder Gus van Sants vieldiskutiertem Elephant – Kopper ballert sich stattdessen bei einer Flasche Rotwein durch virtuelle Schulräume, während Odenthal interessiert über seine breiten Schultern blickt. 

Der ermordete Schüler Ron (Rick Okon, debütiert 2018 in Tod und Spiele als Tatort-Kommissar in Dortmund), der den Amoklauf geplant, aber nicht mehr hatte ausführen können, hat seiner Nachwelt nämlich ein Videospiel hinterlassen, in dem gleich reihenweise lausig animierte Spinnenkreaturen explodieren und optisch alles nach den ersten dreidimensionalen Gehversuchen der 90er Jahre aussieht. 

Zeit für solche albernen Spielchen bleibt reichlich, denn statt sich an differenzierter Charakterzeichnung zu versuchen, greifen Drehbuchautor Harald Göckeritz (Der Schrei) und Regisseur Nicolai Rohde (Das erste Opfer) einfach tief in die Klischeekiste und präsentieren mit Außenseiter Manu (Joel Basman, Der letzte Patient), der das Werk von Ron zu Ende bringen will, einen Amokläufer aus dem Bilderbuch: 

- picklig und dunkel gekleidet  
- geheimnisvoll und verschlossen  
- verbittert und frustriert  
- von den Mitschülern verspottet  
- vom Stiefvater (Wolfram Koch, später Frankfurter Tatort-Kommissar) unverstanden  
- vom heimlichen Schwarm links liegen gelassen 

Es ist ein Trauerspiel: Julia (Leonie Benesch), in die sich der potenzielle Massenmörder verliebt hat, ist die einzige interessante Figur, und Benesch die einzige Schauspielerin, die in diesem Tatort bleibenden Eindruck hinterlässt.

Das Thema Cybermobbing arbeiten die Filmemacher zumindest halbwegs angemessen ab, wenngleich Freunde bis in den Tod weit davon entfernt ist, der im Jahr 2013 brandaktuellen Problematik neue Aspekte hinzuzufügen. Ein gehaltvoller Beitrag zur Diskussion um mögliche Motive für jugendliche Gewalttaten ist der 882. Tatort erst recht nicht: Die Dialoge sind hölzerner als ein Hochsitz, die Figuren entsetzlich schablonenhaft und die Kommissare für ein solch heikles Thema schlichtweg die falschen.

Freunde bis in den Tod krankt nämlich auch an den altbekannten Ludwigshafener Schwächen: Lena Odenthal hält pseudo-tiefsinnige Monologe in menschenleeren Turnhallen und zieht im Zehn-Minuten-Takt überflüssige Zwischenresümees, und der emsige Becker (Peter Espeloer) bringt die Ermittlungen mal wieder im Alleingang voran, während die Kommissare sich und den Zuschauer durch gähnend langweilige Verdächtigenbefragungen quälen. Rekonstruktion des Tathergangs, Faserspuren unter den Fingernägeln, akribische Audioanalyse - Becker kann einfach alles.

Für eingefleischte Fans des Krimis aus der BASF-Stadt mag dieses Rezept noch immer aufgehen – doch der Eindruck, dass Odenthal und Kopper ihre besten Jahre hinter sich haben, verfestigt sich mit jedem neuen Tatort mehr.

Bewertung: 3/10

Angezählt

Folge: 881 | 15. September 2013 | Sender: ORF | Regie: Sabine Derflinger
Bild: rbb/ORF/Petro Domenigg
So war der Tatort:

Bibibezogen.

Denn der siebte Einsatz von Major Bibi Fellner (Adele Neuhauser) ist zugleich ihr persönlichster: Die Wiener Ermittlerin gibt sich in Angezählt die Schuld am grausamen Flammentod der bulgarischen Prostituierten Yulya Bakalova (Milka Kekic), die kurz vor der tödlichen Feuerattacke mit einer mit Benzin gefüllten Wasser-Pumpgun versucht, ihre ehemalige Vertraute auf dem Handy anzurufen. Bibi sitzt jedoch gerade bei ihrer neuen Psychologin Dr. Schneider (Tatjana Alexander, Unsterblich schön) und drückt die anonyme Anruferin weg – eine folgenschwere Fehlentscheidung.

Viel mentale Aufbauarbeit, die ihr Kollege Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) in der Folge leisten muss, denn Drehbuchautor Martin Ambrosch und Regisseurin Sabine Derflinger, die bereits zusammen die starke Wiener Folge Falsch verpackt realisierten, schlagen ausführlich den Bogen zu Fellners Vergangenheit bei der "Sitte", konzentrieren sich auf ihr zerrüttetes Innenleben und legen den Finger tief in die Kindheitswunden der Ermittlerin. Die Ex-Alkoholikerin heult sich hemmungslos an der Schulter ihres Kollegen aus, prügelt sich mit Verdächtigen und gesteht ihrer Psychologin das schwierige Verhältnis zu ihrem überforderten Vater, der sie als Kleinkind zu den Großeltern gab. 

Dass die Wiener Kommissare auch einen grausamen Mordfall aufzuklären haben, gerät da fast zur Nebensache: Angezählt ist eine ungewöhnliche und hochemotionale, aber erst auf der Zielgeraden wirklich spannende Tatort-Folge. Fans des österreichischen Fadenkreuzkrimis kommen dennoch voll auf ihre Kosten. Nach einer halben Stunde ist nicht nur der 12-jährige und damit strafunmündige Ivo (Abdul Kadir Tuncel) als Mörder, sondern auch der kaltblütige Zuhälter Ilhan Aziz (Murathan Muslu) als skrupelloser Auftraggeber identifiziert.


FELLNER:
Der hat ein Kind benutzt, um sich an der Yulya zu rächen.


Die Täterfrage wird nach dem perfiden Auftaktmord gar nicht erst gestellt, das Motiv ist offensichtlich: Rache an Yulya Bakalova, die den schmierigen Hobby-Boxer mit ihrer Aussage einst für viele Jahre hinter Gitter brachte. 

Kein Wunder, dass Bibi Fellner dem Ex-Knacki sogleich die Fresse polieren möchte, doch wirkt ihr spontaner Boxkampf mit Aziz – ihr Engagement in allen Ehren – reichlich konstruiert und eher unfreiwillig amüsant als dramatisch. Da fällt die Szene, in der Fellner einem vor Lust förmlich sabbernden Mittfünfziger ihren strammen Hintern hinhält und fachmännisch den Preis für sofortigen Analverkehr verhandelt, schon deutlich origineller und witziger aus. 

Dennoch: Typische humorvolle Wiener Momente wie diese bleiben die Ausnahme, denn Angezählt entpuppt sich früh als bedrückende, authentisch in Szene gesetzte Studie des von Gewalt und finanzieller Abhängigkeit geprägten Milieus der Zwangsprostitution, das Eisner und Fellner bei ihren Ermittlungen ordentlich auf links krempeln. 

Dass Drehbuchautor Ambrosch auf der Zielgeraden noch eine halbgare Vaterschaftsfrage mit in den Plot quetscht, ist dabei zu verkraften: Der 881. Tatort steuert konsequent auf den zwar vorhersehbaren, aber packenden Showdown zu, in dem das Publikum intensiv um Fellners Gesundheit zittern darf. Zum leidenschaftlichen Täterrätseln im Familien- oder Freundeskreis ist Angezählt aber nicht geeignet.

Bewertung: 6/10

Gegen den Kopf

Folge: 880 | 8. September 2013 | Sender: rbb | Regie: Stephan Wagner
Bild: rbb/Frédéric Batier
So war der Tatort:

Erschreckend nah an der Großstadtrealität.

Denn Gegen den Kopf ist nah am realen Fall Dominik Brunner, der fast genau vier Jahre vor der Erstausstrahlung des Krimis auf dem S-Bahnhof München-Solln von zwei Jugendlichen totgeprügelt wurde, nachdem er bei einer Auseinandersetzung mit jüngeren Teenagern beherzt eingeschritten war.

Der 880. Tatort spielt freilich nicht an der Isar, sondern rund 600 Kilometer weiter nördlich in Berlin – doch die Geschichte, die Regisseur und Drehbuchautor Stephan Wagner entwirft, orientiert sich eng am tragischen Tod von Brunner, der postum mit zahlreichen Ehrungen bedacht wurde und viele großangelegte Aktionen für mehr Zivilcourage auslöste.

Wie Brunner stirbt auch der in der U-Bahn energisch einschreitende Mark Haessler (Enno Kalisch) im Tatort nicht direkt an den Folgen der Tritte, sondern an einem Herzfehler, und wie Brunner teilt der Familienvater bei der Auseinandersetzung mit den alkoholisierten Halbstarken zuerst einen Faustschlag aus, bevor er einstecken muss.

Wagner, der mit dem hochspannenden Borowski und die Frau am Fenster einen der stärksten Fadenkreuzkrimis der letzten Jahre inszenierte, lässt die Moralkeule bei seiner zweiten Regiearbeit für die Krimireihe stecken und Gegen den Kopf erfreulicherweise nicht zum flammenden Plädoyer für mehr Zivilcourage verkommen. Vorwürfe an die anderen Fahrgäste, Haessler nicht geholfen zu haben, bleiben unausgesprochen, platte Früher-war-alles-besser-Momente die Ausnahme.


RITTER:
Zu meiner Zeit hat man aufgehört zu schlagen, wenn ein Mensch am Boden lag.


Die Hauptstadt-Kommissare Till Ritter (Dominic Raacke) und Felix Stark (Boris Aljinovic), die diesmal vom ehrgeizigen, aber falsch spielenden jungen Kollegen Schott (Claudius von Stolzmann) bei ihren Ermittlungen unterstützt werden, bekommen bei der Täterfrage eine harte Nuss vorgesetzt.

Dabei setzt das Drehbuch nur bedingt auf eine klassische Whodunit-Konstruktion: Die jugendlichen Schläger sind dank der Kamerabilder der U-Bahn-Station – der Überwachungsstaat lässt pünktlich zur anstehenden Bundestagswahl grüßen – zwar schnell identifiziert, doch findet die Prügelei im toten Winkel statt, so dass sich Konstantin Auerbach (Jannik Schümann, Liebeshunger) und Achim Wozniak (Edin Hasanovic, Der Wald steht schwarz und schweiget) gegenseitig die Haupttäterschaft in die Schuhe schieben können.

Hier liegt die einzige nennenswerte Schwäche des ansonsten erstklassig arrangierten und beklemmend realen Hauptstadtkrimis: Die Auflösung ist für jeden tatorterprobten Zuschauer ein Kinderspiel, weil sich die Teenager in ihrem Wesen zu stark voneinander unterschieden. Während der arrogante Unternehmersohn Auerbach den aalglatten Anwalt Dr. Thomas (Simon Licht, Jagdfieber) mit zur Vernehmung bringt und die bohrenden Fragen lächelnd beantwortet, sammelt der vorbestrafte Problemteenager Wozniak (Ritter: "Der braucht keinen Anwalt, der braucht ein Wunder.") nach anfänglich bockiger Haltung fleißig Sympathiepunkte.

Dennoch: Gegen den Kopf bleibt trotz der Vorhersehbarkeit in der Täterfrage eine der besten Berliner Folgen seit Jahren und ist nach dem müden Schweizer Auftakt Geburtstagskind das erste große Tatort-Highlight nach der Sommerpause 2013.

Bewertung: 8/10

Geburtstagskind

Folge: 879 | 18. August 2013 | Sender: SF | Regie: Tobias Ineichen
Bild: SWR/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Zugeknöpft.

In Geburtstagskind, dem vierten gemeinsamen Einsatz der Luzerner Ermittler Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer), wird nämlich deutlich weniger aus dem privaten Nähkästchen geplaudert als es die offizielle Inhaltsangabe der ARD nahelegt: "Im Zuge ihrer Ermittlungen werden Flückiger und Ritschard auch mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert", heißt es dort vielversprechend – erfuhr der Zuschauer in den Flückiger-Fällen Wunschdenken, Skalpell, Hanglage mit Aussicht und Schmutziger Donnerstag doch schließlich so gut wie nichts aus dem Privatleben und über den Charakter des smarten Hobbyseglers und Frauenschwarms.

Kollegin Ritschard sorgte mit ihrem leidenschaftlichen Lesbenkuss in Schmutziger Donnerstag zumindest in den Boulevardmedien für Aufsehen – und bekommt auch in Geburtstagskind von Drehbuchautor Moritz Gerber eine Steilvorlage serviert: Ihre eigene Kindheit verlief offenbar ähnlich problematisch wie die des ermordeten Teenagers Amina Halter (Charla Chiara Bär). Doch was passiert?

"Ja, vielleicht war ich auch ein Problemkind.", gibt Ritschard dem mäßig interessierten Flückiger im Präsidium zu Protokoll, geht in der Folge aber tatsächlich mit keiner weiteren Silbe auf ihre verkorkste Kindheit ein und nahtlos zur Tagesordnung über.

Man stelle sich diese Szene in Ludwigshafen vor: Stundenlang würden Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Mario Kopper (Andreas Hoppe) in der gemeinsamen WG bei einer Flasche Rotwein die eigenen Jugendsünden aufrollen (vgl. Tod einer Lehrerin). Charakterzeichnung im Schweizer Tatort? Fehlanzeige. Stattdessen hagelt es platte Weisheiten.


RITSCHARD:
Sicher, mit 14 ist man kein Kleinkind mehr.


Die Identifikation mit den ohnehin nicht sonderlich beliebten Ermittlern wird für den Zuschauer damit weiterhin zum Ding der Unmöglichkeit – was zu verkraften wäre, wenn in Geburtstagskind zumindest der Kriminalfall clever arrangiert wäre.

Doch auch hier verrichten Drehbuchautor Gerber und Regisseur Tobias Ineichen (Schneetreiben), der bereits mit Skalpell Schiffbruch erlitt, nur Dienst nach Vorschrift: Die christliche Glaubensgemeinschaft, der Aminas Vater Beat Halter (Oliver Bürgin, Wir sind die Guten) vorsteht, wird ähnlich oberflächlich skizziert wie die im thematisch verwandten Wiener Tatort Glaube, Liebe, Tod. Hierarchie und Finanzierung der sektenähnlichen Gruppierung werden erst gar nicht angerissen und außer Bibelzitaten und plumpen ideologischen Phrasen hat Halter seiner Frau und den Luzerner Ermittlern wenig zu erzählen.

Dagegen ist jede Szene mit Aminas leiblichem Vater, dem aufbrausenden Ex-Knacki Kaspar Vogt (charismatisch: Marcus Signer, Time-Out) eine wahre Wohltat: Signer gibt den trinkenden Wohnwagenbewohner herrlich rüpelhaft und macht Vogt damit zum einzigen Lichtblick unter den ansonsten einfallslosen Figuren. Schade, dass Vogt als traubenstehlender Kleinkrimineller mit dünnem Alibi – eiserne Tatort-Regel – früh als ernstzunehmender Mordverdächtiger ausscheidet und die Auflösung für jeden krimierprobten Zuschauer zur Formsache macht.

Immerhin: Der 879. Tatort ist auch dank des originellen Indizes, das zur Überführung des Täters führt, kein weiterer Schweizer Totalausfall – vom Prädikat "sehenswert" aber noch immer ein gutes Stück entfernt.

Bewertung: 4/10

"Französich"?

Letzte Tage

Folge: 878 | 23. Juni 2013 | Sender: SWR | Regie: Elmar Fischer
Bild: SWR/Stephanie Schweigert
So war der Tatort:

Spontan.

Denn Vorhersehbarkeit kann man Letzte Tage wahrlich nicht vorwerfen. Allenfalls in der Täterfrage: Am Ende mimt mal wieder der prominenteste Nebendarsteller den Mörder, und die obligatorischen Revierstreitigkeiten zwischen Deutschland und der Schweiz sind auch nicht unbedingt neu. Aber wer hätte gedacht, dass sich Hauptkommissar und Teenieschwarm Kai Perlmann (Sebastian Bezzel), der früher Assistentin Annika "Beckchen" Beck (Justine Hauer) den Kopf verdrehte, tatsächlich nochmal so richtig verliebt? Im Typisierungszelt. In eine Studentin. Hals über Kopf. Spontan. Wow.

Das Problem dabei: Letzte Tage ist in erster Linie ein Sonntagskrimi und kein seichtes Herzschmerz-TV-Movie, dass man zur gleichen Sendezeit im ZDF oder unter der Woche auf einem Privatsender vermuten würde. Spannung? Nicht vorhanden. Die Täterfrage? Zweitrangig.

Gemächlich plätschert der 878. Tatort, den mit Elmar Fischer (In eigener Sache) ein leinwanderprobter Filmemacher inszeniert, vor sich hin – im Mittelteil nehmen sich die Filmemacher sogar die Zeit, die Suche nach dem Mörder von Jochen Heigle (Ralf Beckord) für Minuten komplett auszublenden, weil Perlmann zum ersten Mal bei Medizinstudentin Mia (Natalia Christina Rudziewicz, Abgezockt) übernachtet - und dabei das Dilemma des Krimis unfreiwillig auf den Punkt bringt.


PERLMANN:
Du musst mich langsam wieder bremsen. Ich glaube, ich hab noch nie so viel am Stück gesprochen!


Die Spannungskatastrophe offenbart sich vor allem im Vergleich zum zwölf Jahre älteren, dramaturgisch ähnlich gelagerten Münchner Hochkaräter Im freien Fall, in dem sich Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) Hals über Kopf in eine Studentin verliebte und am Ende des hochdramatischen Krimidramas trauernd zurückblieb.

Geredet wird in Letzte Tage viel, geknutscht, geschmachtet und über das Leben philosophiert auch, doch passieren tut am Ende viel zu wenig. Perlmanns Kollegin Klara Blum (Eva Mattes) schlägt sich mit dem Schweizer Kollegen Mattheo Lüthi (Roland Koch) herum, der natürlich nicht mit offenen Karten spielt, und zeigt sich ebenfalls spontan: Die Kommissarin kettet Lüthis Hand kurzerhand an die ihre und wirft den Schlüssel zu den Handschellen in den Bodensee. Wenn die Ermittlungen schon nicht Hand in Hand, stattfinden können, dann doch wenigstens Hand an Hand.

Das ist für das weitere Geschehen zwar folgenreich, aber vollkommen konstruiert und dient im Drehbuch von Stefan Dähnert (Bluthochzeit) nur dazu, ein bisschen Pepp in die auf Sparflamme köchelnde Beziehung zwischen Blum und Lüthi zu bringen. Die Chemie will hier noch immer nicht stimmen, auch weil die kleinen Neckereien bei weitem nicht so charmant ausfallen wie einst zwischen Blum und Reto Flückiger (Stefan Gubser, der mittlerweile in Luzern ermittelt).

So steht unter dem Strich ein vollkommen spannungsfreier Genremix aus Leukämiedrama, kitschiger Romanze und deutsch-schweizerischem Fadenkreuzkrimi, der den schwachen Trend der vorherigen Tatort-Wochen bestätigt.

Bewertung: 2/10

Die Wahrheit stirbt zuerst

Folge: 877 | 16. Juni 2013 | Sender: MDR | Regie: Miguel Alexandre
Bild: MDR/Saxonia Media/Junghans
So war der Tatort:

Stimmungsvoll.

Zweifellos tolle Winterbilder liefert der langjährige TV-Regisseur Miguel Alexandre (Die kleine Zeugin), der zum zweiten Mal nach Todesbilder einen Leipziger Tatort inszeniert und sich erstmalig auch als Kameramann versucht, in Die Wahrheit stirbt zuerst. Doch leider nützt eine hübsche Verpackung, zu der auch der Gastauftritt der bereits zweimal im Tatort zu sehenden Katja Riemann (Katjas Schweigen) zählt, am Ende wenig, wenn der Inhalt nicht überzeugt.

Und da liegt  der Hase im Pfeffer: Das Drehbuch von Alexandre und den nicht minder TV-erprobten André Georgi (Fette Hunde) und Harald Göckeritz (Mord in der ersten Liga) ist die größte Schwäche eines melancholisch angehauchten, emotionalen Tatorts aus Sachsen, der trotz Starbesetzung und wundervollen Seeaufnahmen letztlich nur die bekannten Versatzstücke des Sonntagskrimis aneinanderreiht und von Beginn an mit seiner mangelnden Glaubwürdigkeit zu kämpfen hat.

Da spendet Hauptkommissarin Eva Saalfeld (Simone Thomalla) dem hauptverdächtigen Peter Albrecht (Pasquale Aleardi) schon mal spontan im Laderaum eines Leichenwagens (!) ein paar Liter Blut: Klingt eher nach einem typisch grotesken Gag der Münsteraner Tatort-Kollegen, ist aber tatsächlich todernst gemeint.

Auch die Auflösung, mit der Alexandre bis in die Schlussminuten hinter dem Berg hält, ist nicht vollends schlüssig, zählt am Ende aber noch zu den überraschenderen Momenten eines ansonsten reichlich konstruierten und einfallsarmen Fadenkreuzkrimis aus Leipzig, dessen Spannungskurve selten nach oben ausschlägt.

Exemplarisch für die Ideenarmut des Drehbuchautorentrios steht Riemanns Gastauftritt als toughe BKA-Ermittlerin Linda Groner, die Hauptkommissar Andreas Keppler (Martin Wuttke) zunächst am Telefon terrorisiert, penetrant auf einer selbstgedrehten Zigarette kaut und sich in der Pension des mürrichen Halbglatzkopfs einquartiert, um ihm bei den Ermittlungen schließlich die Zügel aus der Hand zu nehmen: Wie schon der schwache Leipziger Vorgänger Schwarzer Afghane wird auch dieser Leipziger Fall auf eine höhere, internationalere Ebene gehievt, so dass mal wieder die Uhr danach gestellt werden kann, dass das Geschehen auf dem Polizeipräsidium schon bald von Kompetenzgerangel, gegenseitigem Misstrauen und verletzten Eitelkeiten dominiert wird.

Szenen, wie man sie im Tatort schon dutzende Male deutlich besser gesehen hat. Dass der Zwist in einer Doppel-Suspendierung für Keppler und Saalfeld gipfelt, ist zwar mutig, verpufft aber letztlich ohne nachhaltige Wirkung, weil der 877. Tatort wenige Minuten später ohnehin zu Ende ist.

Für Fans der Leipziger Ermittler liefert Die Wahrheit stirbt zuerst zumindest eine interessante Weiterentwicklung der Figuren: Keppler wird von seiner Wiesbadener Vergangenheit eingeholt und schwelgt mit Ex-Frau Saalfeld in Erinnerungen, während Laborratte Wolfgang Menzel (Maxim Mehmet) förmlich über sich hinaus wächst und am Ende fast Freundschaft mit dem mürrischen Straßenbullen ("Ich mag ihre Stimme nicht! Vielleicht auch nur das nicht, was sie sagt!") schließt.

Pensionswirt Brunner (Tom Jahn) hingegen plaudert munter aus dem Nähkästchen und bittet Groner zum gemeinsamen Frühstück: Alles nett anzusehen, aber trotz des stimmungsvollen Auftakts am Seeufer in den seltensten Fällen wirklich fesselnd.

Bewertung: 4/10

Er wird töten

Folge: 876 | 9. Juni 2013 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Zeitlupenreich.

Rein ästhetisch ein durchaus reizvolles Unterfangen – schließlich spielten sich schon eine ganze Reihe denkwürdiger Szenen der Filmgeschichte (man denke an 2001: Odyssee im Weltraum oder Spiel mir das Lied vom Tod) in reduzierter Geschwindigkeit ab.

Doch das Stilmittel, auf das Regisseur Florian Baxmeyer (Der illegale Tod) viel zu oft zurückgreift, will in Er wird töten nicht immer zum Geschehen passen: Wenn Aushilfskommissar Leo Uljanoff (Antoine Monot Jr., Das Dorf) beim Todeskampf vor den Pissoirs der Herrentoilette vergeblich versucht, sich das tödlich im Rücken steckende Messer herauszuziehen, verleiht die Zeitlupe der großartig arrangierten Sequenz zusätzliche Dramatik.

Wenn aber Kriminalassistent Karlsen (Winfried Hammelmann) der trauernden Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel), die die kompletten neunzig Minuten über in einer eigenwilligen Kegelkutte ermittelt, auf dem Flur des Präsidiums bedeutungsschwanger ein Indiz in die Hand drückt und danach wortlos ins Büro abmarschiert, wirkt das eher unfreiwillig komisch.

Die inszenatorische Einseitigkeit ist aber nicht die einzige Schwäche eines Tatorts, der nach dem überzeugenden Vorgänger Puppenspieler und dem überraschenden Auftaktmord an Publikumsliebling Uljanoff – Technikfreak Gisbert aus dem hochkarätigen Münchener Tatort Der tiefe Schlaf lässt grüßen – qualitativ an viele indiskutable Bremer Folgen der jüngeren Vergangenheit (vgl. Ordnung im Lot oder Hochzeitsnacht) anknüpft.

Die Antwort auf die Täterfrage ist erschreckend leicht zu beantworten: Joseph Vegner (Peter Schneider, der eine Doppelrolle stemmt) ist als unsympathischer Ex-Sträfling und terrorisierender Ex-Mann der aufgelösten Ärztin Marie Schemers (Annika Kuhl, Nachtgeflüster) so extrem verdächtig, dass er für jeden halbwegs krimierprobten Zuschauer sofort als Mörder ausscheidet. Und da lediglich eine einzige weitere Person charakterlich näher skizziert und mit entsprechender Kamerapräsenz bedacht wird, muss das Publikum eigentlich nur noch 1 und 1 zusammenzählen.

Und dann ist da noch die überraschende Rückkehr von Nils Stedefreund (Oliver Mommsen), der sich in Puppenspieler nach Afghanistan verabschiedet und in Er wird töten plötzlich wieder auf der Matte steht: Wie halbherzig die traumatischen Erfahrungen seines Auslandseinsatzes im 876. Tatort abgefrühstückt werden, zeigt sich vor allem im direkten Vergleich zum deutlich gelungeneren Saarbrücken-Tatort Heimatfront, in dem sich die Hauptkommissare Kappl und Deininger in langen Gesprächen intensiv mit Kriegsrückkehrern auseinandersetzten.

Im Bremer Tatort hingegen werden Stedefreunds einschneidende Erlebnisse fast im Vorbeigehen abgehandelt: ein paar heimlich eingeschmissene Pillen, das blutende Gesicht eines Kameraden – das war's. Das wird dem kontrovers diskutierten Bundeswehreinsatz und der psychischen Belastung der Soldaten nicht im Ansatz gerecht und ist am Ende fast das größte Ärgernis eines entsetzlich vorhersehbaren Tatorts, in dem einzig Annika Kuhl für die eine oder andere schauspielerische Duftmarke sorgt.

Man hätte dem sympathischen Uljanoff einen würdigeren Abschied gewünscht.

Bewertung: 3/10