Wie einst Lilly

Folge: 781 | 28. November 2010 | Sender: HR | Regie: Achim von Borries
Bild: HR/Johannes Krieg
So war der Tatort:

Verhalten. Noch.

Denn den ersten großen Paukenschlag setzt der HR nicht zum 40-jährigen Tatort-Jubiläum – den hebt sich der Sender für den zweiten Fall seines neuen LKA-Ermittlers Felix Murot (Ulrich Tukur) auf.

Enttäuschen tut dessen Debüt Wie einst Lilly dennoch nicht, ganz im Gegenteil: Der 781. Tatort darf getrost als Fingerübung vor dem im öffentlich-rechtlichen Sinne absolut außergewöhnlichen Das Dorf und dem alles überragenden Meisterwerk Im Schmerz geboren interpretiert werden.

Das Drehbuch von Christian Jeltsch (Er wird töten) deutet bereits an, was den Zuschauer bei den Folgen aus Wiesbaden in Zukunft erwartet: surreale Sequenzen, Stimmen aus dem Off, aber nicht zuletzt auch eine Hauptfigur, die so leicht nichts aus der Ruhe bringt – nicht einmal die Diagnose Hirntumor. Felix Murot verlässt einfach den Wartebereich des Krankenhausflurs, als die besorgte Ärztin ihn darum bittet, sich dauerhaft auf der Station einzuquartieren.

Der Trend zur prominenten Besetzung der Hauptrollen bestätigt sich auch in Hessen: Ulrich Tukur (Der Teufel vom Berg) war bis dato bereits in vier Tatort-Folgen als Nebendarsteller zu sehen und hat in seiner Karriere so ziemlich jeden Filmpreis abgeräumt, den es hierzulande zu gewinnen gibt (unter anderem den Deutschen Fernsehpreis für seinen glänzenden Auftritt im etwas überbewerteten Frankfurter Fall Das Böse). Für seine Performance in Wie einst Lilly erhielt Tukur später die Goldene Kamera.

Atmosphärisch erinnert sein erster Einsatz noch am ehesten an die Bodensee-Folgen mit seinen Kollegen Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) – und das nicht nur, weil er an einem Badesee spielt. Das Tempo in Wie einst Lilly ist gemächlich, häufig steht die Bildsprache im Vordergrund, und seine Stimme erhebt Murot nie.

Alles wirkt hier sehr melancholisch – und das ist auch gut so, denn gleich zum Auftakt muss der "Lackaffe" einen Mord aufklären, der seine eigene Vergangenheit aufrollt und ihn als Figur ausführlich auslotet. Ein Zyniker ist er, der Felix, ein bärbeißiger Junggeselle und Einzelgänger, dessen einzige Vertraute seine Sekretärin Magda Wächter (Barbara Philipp, Janus) zu sein scheint.

Dass er als LKA-Ermittler natürlich sofort mit Dorfpolizist Thönnies (Der Weg ins Paradies) aneinandergerät, ist der einzig wirklich vorhersehbare Drehbuchkniff – ansonsten weiß der Zuschauer selten, was Regisseur Achim von Borries (Der Eskimo) und Drehbuchautor Christian Jeltsch mit ihm vorhaben. Das macht Lust auf mehr – und schafft zugleich die Basis für die außergewöhnlichen Tatort-Folgen, die das TV-Publikum in den nächsten Jahren in Wiesbaden erwarten.

Bewertung: 8/10

Unsterblich schön

Folge: 780 | 21. November 2010 | Sender: BR | Regie: Filippos Tsitos
Bild: BR/Elke Werner
So war der Tatort:

Schönheitsfixiert.

Das zeigt schon der hochdramatisch in Szene gesetzte Mordfall: Die ebenso attraktive wie unterkühlte Beautyfanatikerin Konstanze Schiller (Tatjana Alexander, Angezählt) stirbt qualvoll an einem Allergieschock, nachdem sie sich ein warmes Schokoladenbad gegönnt und der perfide Täter sie ohne rettende Spritze dabei eingeschlossen hat. Doch was hat die Allergie ausgelöst?

In ihrem 20. Dienstjahr ermitteln die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) in der Welt der Reichen und Schönen – und damit im Umfeld ganz anderer Problemzonen als im Meilenstein Nie wieder frei sein, der eineinhalb Monate später auf Sendung geht und zu Recht mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wird. Alles, was auch nur im Entferntesten mit Schönheit zu tun hat, wird in einen Cremetopf geworfen und kräftig verrührt: Schönheitsbäder, Diäten, Botox.

Die Ermittler aus der Stadt an der Isar – nach 55 Einsätzen zwar ergraut, aber noch lange kein Auslaufmodell – können mit dem Verjüngungswahn allerdings nicht viel anfangen, und entsprechend distanziert fallen ihre Verhöre aus: Vom Anbandeln mit hübschen Tatverdächtigen (vgl. Im freien Fall oder Das Glockenbachgeheimnis) ist in Unsterblich schön wenig zu sehen – und das, obwohl gleich vier attraktive Spa-Besucherinnen im Präsidium aufschlagen und in einer wunderbar überzeichneten, subtil erotischen Sequenz ihre Einschätzungen zu Protokoll geben.

Für seine rhetorische Frage ("Und Sie arbeiten nicht?") erntet Leitmayr nur Kopfschütteln und Gekicher: Bereits in der Eingangssequenz faulenzen die Damen am Pool und philosophieren über die Schönheit von George Clooney, während Schiller eine Runde Botox für alle ausgibt.

Lehrt uns der Münster-Tatort Feierstunde sechs Jahre später, dass sich Botox auch hervorragend zum Vergiften ungeliebter Professoren eignet, ist die Mordwaffe im 780. Tatort allerdings eine andere.


LEITMAYR:
Dieser Allergieschock macht mich noch ganz wahnsinnig. Eine Pistole, ein Messer, eine Kettensäge – das sind vernünftige Tatwaffen. Aber doch keine Erdnusspraline.


Drehbuchautorin Stefanie Kremser und Regisseur Filippos Tsitos, die bereits 2007 beim herausragenden Münchner Tatort Kleine Herzen erfolgreich zusammenarbeiteten, belassen es bei den zwei genannten Sequenzen mit den klischeehaft gezeichneten Schönheitsfanatikerinnen und beleuchten stattdessen das familiäre Umfeld der Toten. Ins Blickfeld der Ermittler geraten vor allem die Schwester, die Mutter und der Ehemann, so dass sich die Auflösung der Täterfrage nicht allzu knifflig gestaltet.

Dorothea Jahn (Victoria Trauttmansdorff, Frühstück für immer), kommt sich wie ein hässliches Entlein vor und stand schon seit Kindertagen im Schatten ihrer schöneren und erfolgreicheren Schwester Konstanze, die ihr auch noch den Mann ausgespannt hat.

Ihre nicht minder gutaussehende und jung gebliebene Mutter Rita Schiller (Gudrun Landgrebe, Salü Palu) gibt sich ähnlich unterkühlt wie das Mordopfer und wird zudem zur nervigen Kalorienpolizei, als sich ihre Enkelin Nutella aufs Brot schmiert.

Und dann ist da noch der Gatte der Toten, der als Model arbeitet: Andreas Lutz (Robert Atzorn, von 2001 bis 2008 als Hauptkommissar Jan Casstorff im Hamburger Tatort zu sehen) bewahrt in seinem Kühlschrank Botox auf wie andere Joghurt, wird aber beim Dreh eines Werbespots kurzerhand durch einen jüngeren Schauspieler ersetzt. Das wäre Bill Murray in Sofia Coppolas Hollywood-Klassiker Lost in Translation (s.u.) nicht passiert – der musste sich in Japan allerdings auch kein Anti-Aging-Beer, sondern Whiskey einschenken.

Lutz hingegen bekommt im beinharten Modelgeschäft nichts geschenkt und muss seinen Körper in Schuss halten – eine Geschichte, die in TV und Kino schon häufiger erzählt wurde, aber noch zu den interessanteren Aspekten der selten wirklich tiefgründigen Milieustudie zählt. Auch die Spannungskurve der satirisch angehauchten Whodunit-Konstruktion schlägt selten nach oben aus.

Zumindest witzig wird es aber, wenn sich die Kommissare selbst reflektieren: Während Batic kaum mehr als Rasierschaum an sein Gesicht lässt (und damit im Präsidium für einen Lacher sorgt), zeigt Leitmayr gesteigertes Interesse an von Lutzen beworbenen Gedächtnispillen, die er in einer Apotheke entdeckt.

Bewertung: 6/10

Die Unsichtbare

Folge: 779 | 14. November 2010 | Sender: SWR | Regie: Johannes Grieser
Bild: SWR/Stephanie Schweigert
So war der Tatort:

Unbeholfen.

Denn Die Unsichtbare macht von Beginn an den Eindruck, als wäre dieser Tatort nur ein konstruierter, am Reißbrett entworfener Krimi, der irgendwie den sozialkritischen Auftakt für die im direkten Anschluss an die Erstausstrahlung folgende Talkrunde bei Anne Will bilden muss (Thema: illegale Einwanderer). 

Eine solche Einwanderin kommt im 779. Tatort unter Regie von Johannes Grieser (Todesschütze) einleitend ums Leben und ruft die Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) auf den Plan, die in der Folge nicht nur nach dem Mörder fahnden, sondern vor allem moralische Fragen und mangelnde schulische Perspektiven von Kindern mit Migrationshintergrund diskutieren. Da darf der Senf von Julia Bootz (Maja Schöne), die sich um die Schullaufbahn der eigenen Tochter sorgt, natürlich nicht fehlen. 

Und die von einem Verehrer mit Rosen bedachte Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und Assistentin Nika Banovic (Miranda Leonhardt) müssen stirnrunzelnd zur Kenntnis nehmen, dass die Stuttgarter Kommissare mit Herz schon mal ein Auge zudrücken, wenn zwanzig illegal in einer Zuffenhausener Großreinigung untergebrachte Einwanderer nach einer Großrazzia die Abschiebehaft droht. 

Klar, dass bei so vielen Nebenkriegsschauplätzen die Spannung spürbar auf der Strecke bleibt – darum bedient sich das Drehbuchautorengespann um Eva Zahn und Volker A. Zahn, das gut ein Jahr später auch das Skript zum Stuttgarter Tatort Scherbenhaufen beisteuert, eines banalen Kniffs.

Um ein wenig künstliche Spannung zu schüren, baut das Zahn-Duo nämlich einfach einen bedrückenden Nebenhandlungsstrang in die Story ein, der sich dem traurigen Schicksal und nächtlichen Streifzug der beiden Waisenkinder Deniz (Lukas Schust, Die Falle) und Ella (Ella Zirzow, ebenfalls in Die Falle zu sehen) widmet, die nach dem Tod der Mutter in der nächtlichen Landeshauptstadt auf sich allein gestellt sind. Dass die kleine Ella zu allem Überfluss mit einer lebensgefährlichen Krankheit zu kämpfen hat, steht beispielhaft für das Bemühen, den Zuschauer auf Teufel komm raus zum Mitfühlen zu bewegen, weil sich aus der Kriminalhandlung selbst nur wenig Reiz ergibt.

Immerhin: Trotz des Mitwirkens zweier prominenter TV-Gesichter – in Nebenrollen agieren Martin Brambach (Falsch verpackt) und Karl Kranzkowski (Unter Kontrolle) – ist die Auflösung vergleichsweise knifflig, denn der Schauspieler, der den Mörder mimt, ist ein vergleichsweise unbeschriebenes Blatt.

Retten tut dies den 779. Tatort am Ende aber nicht: Zu groß sind die Versäumnisse beim natürlichen Spannungsaufbau, zu seicht der Umgangston in Dienstwagen und Präsidium, zu offensichtlich der Versuch, vernünftige Sozialkritik in einen Krimi nach Schema F zu quetschen. Und dann ist da noch der Zwischenfall auf dem Cannstatter Wasen, bei dem sich Lannert tölpelhaft vom kleinen Deniz in einer Telefonzelle einsperren lässt, und der eher in die Kategorie "gut gemeint" als in die Kategorie "gut gemacht" fällt.

Bewertung: 3/10