Das letzte Rennen

Folge: 644 | 29. Oktober 2006 | Sender: HR | Regie: Edward Berger
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Laufstark.

Denn Das letzte Rennen spielt mitten im Trubel des Frankfurt-Marathons und wurde 2005 auch tatsächlich im Rahmen der realen Massenveranstaltung produziert: Der Hessische Rundfunk installierte neun Drehteams entlang der Strecke und fing 20 intensive Filmminuten unter Live-Bedingungen in der Frankfurter City ein, die an Authentizität kaum zu überbieten sind.

Unter den Läufern ist auch Hauptkommissar Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf), der bei seinem achten Einsatz lange Zeit nur eines im Kopf hat: Gemeinsam mit seiner Laufgruppe um den erfahrenen Trainer Henry Dankquardt (Karl Kranzkowski, Hexentanz) will er den Marathon unter der magischen Marke von vier Stunden absolvieren.

Davon lässt sich der Ermittler auch nicht abbringen, als ihn am Vorabend des Starts die Nachricht erreicht, dass Schwerverbrecher Petar Gricic (Gezim Maraj) aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und er von seinem Chef Rudi Fromm (Peter Lerchbaumer) ins Präsidium zitiert wird: Dellwo gibt sich in der Teambesprechung desinteressiert, kennt nicht einmal den Namen des neuen Kriminalassistenten Jan Gröner (Sascha Göpel) und muss prompt ein Donnerwetter über sich ergehen lassen. Nur seine Kollegin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki), die wie so häufig im Frankfurter Tatort den Ruhepol des Krimis bildet, zeigt Verständnis und gibt ihrem alleinstehenden Partner warme Worte mit in den Feierabend.


DELLWO:
Wenn ich nicht langsam den Kopf freikriege, dann kriege ich irgendwann 'nen Herzkasper oder 'nen Magengeschwür oder sonst irgendwas. Und dann sitzt niemand an meinem Bett und ist für mich da.

SÄNGER:
Ich würde kommen.


Regisseur Edward Berger (Wer das Schweigen bricht) hat einen unheimlich temporeichen und dynamischen Tatort inszeniert, der fast in Echtzeit abläuft und nicht nur den tausenden Läufern in der Bankenmetropole, sondern auch dem Publikum die Schweißtropfen auf die Stirn treibt: Schnell scheint klar, dass es der entflohene Sträfling auf seinen alten Widersacher Dellwo abgesehen hat und mit seinem Scharfschützengewehr an der Strecke auf ihn lauert – und als nach 30 Minuten ein schwedischer Läufer aus dem Hinterhalt erschossen und Dellwo dabei nur um Haaresbreite verfehlt wird, ist das Sichten der Überwachungskamerabilder der bis dato elektrisierendste Moment dieser spannenden Tatort-Folge.

Die Filmemacher nehmen den Zuschauer mit wackeliger Handkamera direkt mit ins Getümmel, wir sind mittendrin statt nur dabei – und dann platzieren sie nach einer guten Stunde plötzlich einen überraschenden Twist, der das Geschehen noch einmal auf den Kopf stellt.

Bei näherem Hinsehen offenbart das wendungsreiche Drehbuch von Judith Angerbauer und Lars Kraume (Wo ist Max Gravert?) aber auch logische Schwächen: Wenn es der Täter doch allein auf Dellwo abgesehen hat, um persönliche Rache an ihm zu nehmen, warum wählt er dann ausgerechnet den Marathon als vermeintlich günstige Gelegenheit für die Tat? Ein Hinterhalt nach Feierabend würde sich im Hinblick auf einen Mordanschlag viel einfacher gestalten, da die große Bühne rein organisatorisch ein erheblicher Nachteil ist – und auch die Suche der Ermittler nach dem tapfer mitlaufenden Dellwo als "Nadel im Heuhaufen" gestaltet sich im Film kniffliger, als sie dank der Chip-Ortung im Laufschuh eigentlich sein sollte.

Ein wenig weltfremd mutet darüber hinaus der überzeichnete Auftritt von Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) an, dem herzlich egal ist, dass nach dem schwedischen Läufer noch weitere Sportler ums Leben kommen könnten – wer es mit der Realitätsnähe sehr genau nimmt, dem bietet Das letzte Rennen also erhebliche Angriffsfläche. Der hohe Unterhaltungswert, die spektakulären Bilder aus der City von Mainhattan und der spektakuläre Showdown entschädigen aber für so manches Logikloch – da fällt es auch nicht allzu schwer ins Gewicht, dass das Tatmotiv zwar glaubwürdig ausfällt, aber sehr oberflächlich ausgearbeitet wird.

Beim Blick auf die solide Besetzung lohnt sich in der 644. Folge der Krimireihe im Übrigen das genaue Hinsehen: Mit Stefan Konarske, der 2012 in Alter Ego seinen Dienst als Dortmunder Ermittler Daniel Kossik antritt, und Wolfram Koch, der 2015 in Kälter als der Tod als Paul Brix in Frankfurt debütiert, sind zwei spätere Tatort-Kommissare in Nebenrollen als Hobbyläufer bzw. Veranstalter des Marathons zu sehen.

Bewertung: 7/10

Aus der Traum

Folge: 643 | 15. Oktober 2006 | Sender: SR | Regie: Rolf Schübel
Bild: SR/Manuela Meyer
So war der Tatort:

Zerstritten. 

Der Saarbrücker Kriminaloberkommissar Stefan Deininger (Gregor Weber), als ehemaliger Kollege des pensionierten Hauptkommissars Max Palu (Jochen Senf) eigentlich als dessen Nachfolger und neuer Leiter des Kommissariats designiert, ist nämlich alles andere als begeistert, als man ihm unverhofft einen "Schülerlotsen aus Bayern"  vor die Nase setzt. 

Franz Kappl (Maximilian Brückner, Tod auf der Walz) ist sein Name, Tuba spielen sein nachbarstressendes Hobby und "Kriminalhauptkommissar" steht auf seiner Visitenkarte. Zum Spott seiner neuen Kollegen in der saarländischen Landeshauptstadt bringt Kappl neben süßem Senf und anderen bayerischen Spezialitäten als moderner Ermittler auch US-Erfahrung mit in die Provinz, lässt Gaffer am Tatort filmen und weiß zu jedem Verhaltensmuster sogleich eine Statistik zu zitieren. 

Nicht nur aufgrund seiner Amerika-Jahre erinnern die ersten Begegnungen von Kappl und Deininger an die der Kölner Kollegen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), die bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in Willkommen in Köln ähnlich lautstark aneinander geraten, weil Ballauf Schenk die sicher geglaubte Beförderung wegschnappt. 

Auch der Krimititel ist nicht ganz neu: Aus der Traum hieß 1986 bereits eine Folge mit der Mainzer Hauptkommissarin Hanne Wiegand (Karin Anselm) – eines der wenigen Beispiele dafür, dass im Tatort-Kosmos in Ausnahmefällen auch Titeldopplungen möglich sind.

Nach einer Dreiviertelstunde und einem gemeinsamen Mittagessen (inkl. Cameo-Auftritt von TV-Köchin Lea Linster) haben sich die erhitzten Gemüter zumindest halbwegs wieder abgekühlt, so dass sich das neue Ermittlerduo aus Saarbrücken auf den ersten gemeinsamen Fall konzentrieren kann. 

Der ist für Deininger ein ganz persönlicher: Seine geliebte Ex-Kollegin Kathi Schaller (Vaile Fuchs, Der Traum von der Au), die zuvor noch als Marilyn Monroe-Double auf seiner Geburtstagsfeier ein Ständchen zum Besten gegeben hatte, wird mit drei Schüssen in ihrer Wohnung getötet. 

Unterstützt werden Kappl und Deininger bei ihren Ermittlungen zum einen von Spurensicherungsleiter Horst Jordan (Hartmut Volle), der auch bei ihren Nachfolgern Stellbrink und Marx an Bord bleibt, zum anderen von Gerichtsmedizinerin Dr. Rhea Singh (Lale Yavas, Dunkle Wege), die mit den Leichen auf ihrem Untersuchungstisch Gespräche führt und bei ihrem Debüt einen äußerst merkwürdigen Eindruck hinterlässt. 

Die bereits zu Palu-Zeiten etablierte Tradition der grenzüberschreitenden Ermittlungen setzt sich auch bei Kappl und Deininger fort, die bald in Kontakt mit dem Zoll und französischen Revolverhelden geraten. 

Während der prominent besetzte Cast um TV- und Kinogrößen wie Burghart Klaußner (Schatten) und Andreas Schmidt (Altlasten) durch die Bank überzeugt, schwächelt das Drehbuch von Fred und Léonie-Claire Breinersdorfer vor allem auf der viel zu versöhnlich angelegten Zielgeraden: Ein bisschen weniger Friede, Freude, Eierkuchen hätte dem 643. Tatort, den Regisseur Rolf Schübel (Der Tote vom Straßenrand) ansonsten solide in Szene setzt, deutlich besser zu Gesicht gestanden.

Bewertung: 5/10