Stille Tage

Folge: 632 | 21. Mai 2006 | Sender: Radio Bremen | Regie: Thomas Jauch
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Mal still, mal weniger still – das hängt ganz davon ab, wer in diesem Tatort gerade aneinander gerät. 

Stille Tage erlebt Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) vor allem dann, wenn sie ihren an Alzheimer erkrankten Vater besucht, der in einem düster-sterilen Pflegeheim ins Leere starrt und seine eigene Tochter nicht mehr erkennt. Aber auch die Tage von Manfred Schirmer (Joachim Król, Häschen in der Grube) kennzeichnet Stille, seit seine Frau Anne ermordet wurde. 

Bei der Suche nach ihrem Mörder wird Lürsen wie gewohnt von ihrem Kollegen Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) unterstützt – mehr als einmal liegt dieser allerdings mit Vermutungen daneben, und da ist es dann schnell vorbei mit der Stille: Die Bremer Hauptkommissare zoffen sich bei ihrem zehnten gemeinsamen Einsatz so heftig wie selten. 

Das liegt aber nicht nur an Stedefreunds Patzern, sondern auch daran, dass die emotional angeschlagene Lürsen mit dem Hauptverdächtigen Schirmer anbandelt und bei den Ermittlungen nicht gerade durch Professionalität glänzt: Gegenseitige Vorwürfe, Schuldeingeständnisse (Lürsen: "Ich habe mich wie eine Anfängerin verhalten!") und Versöhnungsversuche prägen die Ermittlungsarbeit. 

Auch privat wird Lürsen mit dem Vorwurf ihrer Tochter Helene Reinders (Camilla Renschke) konfrontiert, ihren Vater vernachlässigt zu haben – und so kommt es im Pflegeheim zum bitterbösen Wortgefecht zwischen Lürsen und ihrer 2010 zur Chefin beförderten Tochter, der das Dilemma um kranke Angehörige (dass auch im Berliner Tatort Edel sei der Mensch und gesund, im Stuttgarter Tatort Altlasten oder im Münchner Tatort Gestern war kein Tag thematisiert wird) gelungen auf den Punkt bringt.


LÜRSEN:
Wenn's dir hier nicht gefällt, dann kannst du ihn ja pflegen.

REINDERS: 
Wie stellst du dir das vor? Ich bin mitten in der Ausbildung.

LÜRSEN:
Ach, wie unhöflich von dem alten Herrn, dass er sich mit seinem Schwachsinn nicht noch ein bisschen Zeit gelassen hat!


Bei der Suche nach dem Mörder stapft Lürsen im trist gezeichneten Bremer Umland herum und fällt dabei schon mal in eine Jauchegrube – eine der wenigen Szenen, die beim Publikum für einen Lacher sorgen sollen. 

Deutlich humorloser, dafür umso interessanter ist die alleinlebende Barbara Scheuven (großartig: Grimme-Preisträgerin Karoline Eichhorn, HAL): Zwar unterstützt die argwöhnische Nachbarin die Kommissare mit Hinweisen und den trauernden Witwer mit Selbstgebackenem, doch scheint das von Selbstzweifeln zerfressene Mauerblümchen mehr zu wissen, als über ihre verkrampften Lippen nach außen dringt. 

Neben der eindringlichen Charakterstudie der Hauptverdächtigen Schirmer und Steuven sorgt auch das Rätselraten um den Mörder für gute Unterhaltung, wenngleich die Befragungen der übrigen Verdächtigen so oberflächlich ausfällt wie deren Charakterzeichnung: Bauer und Emu-Züchter Hartmut Klemme (Roland Renner, Parteifreunde) ist eine von vielen eindimensionalen Figuren, darf aber zumindest einen sozialkritischen Seitenhieb austeilen – seine astreinen Äpfel dürfen wegen neuer Auflagen nicht mehr an die Schweine verfüttert werden und so schaufelt er sie kurzerhand auf den Kompost. 

Vater und Liebhaber der Toten hingegen scheinen nicht sonderlich erschüttert: Routinemäßig gehen sie während der Befragungen ihren gewohnten Tätigkeiten nach – eine Unart, die im Tatort häufig zu beobachten ist und auch hier störend wirkt. 

Blass bleibt auch der lethargische Kriminalassistent Karlsen (Winfried Hammelmann), der mit seinen auswendig gelernten Monologen einmal mehr wie ein Laiendarsteller wirkt, den Bremer Ermittlern aber noch bis 2015 (letzter Auftritt in Die Wiederkehr) helfend zur Seite stehen darf. Besonders brav erscheint seine angepasste Arbeitsweise im direkten Vergleich zur toughen Linda Selb (Luise Wolfram), die 2016 in Der hundertste Affe ihr Bremer Debüt als eigenwillige BKA-Kollegin feiert. 

Trotz der schwächelnden Nebenfiguren und einer eher knapp vorgetragenen Auflösung gelingt Drehbuchautor Jochen Greve (Großer schwarzer Vogel) und Regisseur Thomas Jauch (Zahltag) unter dem Strich aber ein spannendes Krimidrama, das vor allem mit den starken Leistungen der beiden wichtigsten Nebendarsteller punktet: Insbesondere Charakterdarsteller Joachim Król, der von 2011 bis 2013 als Hauptkommissar Frank Steier in Frankfurt ermittelt, brilliert im 632. Tatort als undurchsichtiger Ehemann, dessen Wesen vom liebevoll-sensiblen Charmeur bis zum jähzornigen Choleriker reicht.

Bewertung: 7/10

Außer Gefecht

Folge: 630 | 7. Mai 2006 | Sender: BR | Regie: Friedemann Fromm
Bild: BR/TV 60 Film/Vietinghoff
So war der Tatort:

Entzweit. 

Drehbuchautor Christian Jeltsch (Wie einst Lilly) hat sich für den 43. Einsatz von Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) nämlich etwas Besonderes einfallen lassen: Sieht man von den ersten Minuten im eleganten Drehrestaurant des Münchner Olympiaturms ab, sind die beiden Hauptkommissare in Außer Gefecht getrennt voneinander unterwegs. 

Wobei: Unterwegs ist eigentlich nur Batic, der Carlo Menzinger (Michael Fitz) im Schlepptau und zugleich alle Hände voll zu tun hat, denn Leitmayr steckt fast über die komplette Spielzeit mit einem überführten Killer im Fahrstuhl fest. 

Ein einleitender Undercover-Einsatz der beiden Kommissare, die sich in piekfeine Kellner-Outfits werfen und bei ihrer Fahndungsaktion zerstreiten, geht völlig in die Hose: Der Krankenpfleger Johannes Peter Peschen (Jörg Schüttauf, Jagdfieber), kann sich bei der Festnahme mit Leitmayr absetzen und ihm im Fahrstuhl eine Spritze in den Oberarm rammen. Nur was injiziert ihm der von den Medien zum "Todesengel" stilisierte Mann, der zwölf Menschenleben auf dem Gewissen hat?

Daraus machen Jeltsch und Regisseur Friedemann Fromm (...es wird Trauer sein und Schmerz) lange Zeit ein Geheimnis – fest steht nur, dass es Leitmayr von Minute zu Minute schlechter geht und Peschen nichts mehr zu verlieren hat. 

Entzweit ist der 630. Tatort aber auch in einem anderen Sinne: Die Filmemacher bringen mit Bravour zwei vom Erzählton her gänzlich verschiedene Handlungsstränge in Einklang, denn die packenden Thrillermomente im Fahrstuhl sind nur Teil der sauber ausgearbeiteten Rahmenhandlung um das vieldiskutierte Thema Sterbehilfe und Altenpflege.

Immer wenn sich im Fahrstuhl eine Länge einzuschleichen droht, nehmen die Ermittlungen von Batic und Menzinger an Fahrt auf – und umgekehrt. Schnell wird klar, dass der vermeintliche Massenmörder Peschen nur das getan hat, was in Deutschland trotz vieler Befürworter verboten ist: aktive Sterbehilfe bei dementen oder todkranken Menschen durchzuführen. 

Statt ausufernder Sozialkritik (wie oft im Kölner Tatort) oder dem Druck auf die Tränendrüse (wie im überschätzten Sterbehilfe-Tatort Der glückliche Tod) arbeiten die Filmemacher die Schwächen des deutschen Pflegesystems mit feinem Gespür für das Wesentliche heraus: Laut Krankenpflegerin Inge Kehrer (Ulrike Krumbiegel, Unter uns) kommen in ihrer Klinik auf 150 Demenzkranke höchstens zwei bis drei Pfleger – angesichts solcher Zahlen und dem daraus resultierenden Zeitmangel der Pflegekräfte braucht es nur wenige anklagende Worte, um Verständnis für den Täter zu wecken. 

Der gibt sich ebenfalls wortkarg: Dass sich der Bayerische Rundfunk bei der Besetzung des Bösewichts ausgerechnet für Jörg Schüttauf entschied, der zeitgleich als Hauptkommissar Fritz Dellwo im Tatort aus Frankfurt auf Täterfang geht, ist etwas irritierend, und Schüttauf wirkt in seiner ungewohnten Rolle auch nie ganz glücklich. Schauspielerisch wirft er nicht viel in die Waagschale, und seine schwarzen Haare und die Brille dienen offenbar in erster Linie dazu, sein Parallel-Engagement in Frankfurt zumindest optisch ein wenig zu verschleiern. 

Macht aber nichts: Außer Gefecht entwickelt sich trotz der nicht optimalen Besetzung zu einem packenden Wettlauf gegen die Zeit, der von einem stimmungsvollen Soundtrack vorangetrieben wird und mit cleveren Wendungen gespickt ist. Weil das Rettungsteam auf sich warten lässt, liegt es an Batic, Menzinger und Polizeibeamtin Charlie Peetz (Kathrin von Steinburg), zu Leitmayr und Peschen vorzudringen – aber der Münchner Tatort wäre nicht der Münchner Tatort, wenn er außer dieser dramatischen Rettungsaktion nicht noch so viel mehr zu erzählen hätte.

Bewertung: 9/10