Das zweite Gesicht

Folge: 646 | 12. November 2006 | Sender: WDR | Regie: Tim Trageser
Bild: WDR/Kost
So war der Tatort:

Tiefgefroren. 

In Münster herrschen in diesem Tatort nämlich zweistellige Minusgrade, die den fröstelnden Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) besonders hart treffen: Im Hause Boerne, bekanntlich nicht nur Thiels Kollege, sondern zugleich Vermieter, ist die Heizung ausgefallen. 

Zu schaffen macht das vor allem Thiel, der sich bibbernd in dicke Decken hüllt, in jeder freien Minute seine Hände an Warmwasserrohren wärmt und dem deutlich relaxteren Boerne am Ende gar eine Gnadenfrist stellt, um die Heizung wieder ans Laufen zu kriegen – ansonsten würde er einfach Boernes Parkettfußboden verheizen. 

Regisseur Tim Trageser (Der Traum von der Au) verfilmt bei seinem Tatort-Debüt ein klassisch angelegtes, humorvolles Drehbuch aus der Feder von Matthias Seelig und Claudia Falk, die ebenfalls zum ersten Mal für den WDR am Ruder sitzen und für Höllenfahrt noch ein weiteres Mal mit dem Regisseur zusammenarbeiten. 

Wie immer spielt dabei der eigentliche Kriminalfall um einen steifgefrorenen, toten Obdachlosen, um den sich diesmal vor allem Assistentin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) kümmern darf, nur eine untergeordnete Rolle. Doch nicht nur angesichts der arktischen Temperaturen fällt es diesmal auffällig schwer, mit der Geschichte warm zu werden: Das zweite Gesicht ist einer der einfallsärmeren und daher schwächeren Fälle aus Westfalen.

Irgendwie kommt einfach keine rechte Stimmung auf: Die teuren Börsenaktivitäten Boernes, die Thiel mit ein paar unvorsichtigen Mausklicks kolossal sabotiert, wirken albern und unglaubwürdig, viele Dialoge klingen seltsam gekünstelt und das Temperaturproblem in Thiels Wohnung wird als Running Gag spätestens in dem Moment überstrapaziert, in dem Boerne einen antiken Heizlüfter hervorholt, den Thiel schon eine gefühlte Stunde früher in einem Antiquitätenladen entdeckt hat. Auch die Frotzeleien mit Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) sind im 646. Tatort ungewohnt bemüht – das hat das Publikum schon deutlich authentischer erlebt. 

Das mag sich schlechter lesen, als es am Ende ausfällt, denn natürlich liefert auch Das zweite Gesicht über weite Strecken ordentliche Unterhaltung – doch jeder Tatort aus Münster muss sich eben an herausragenden Folgen wie Der dunkle Fleck oder Der doppelte Lott messen lassen. 

Und eine brüllend komische Sequenz hält die Krimikomödie dann doch noch bereit: Thiel ("Vaddern, du tropfst!") ertappt seinen Erzeuger (Claus Dieter Clausnitzer) halbnackt im Haus der bademanteltragenden Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann, "Wir sind hier alle erwachsen.") – einfach köstlich. Und zugleich deutlich überraschender als die Tatsache, dass in Das zweite Gesicht mal wieder eine/r sehr prominente/r Nebendarsteller/in für die Rolle des Mörders/der Mörderin gecastet wurde, was die Auflösung für das tatorterfahrene Publikum zur Formsache macht.

Bewertung: 5/10

Das letzte Rennen

Folge: 644 | 29. Oktober 2006 | Sender: HR | Regie: Edward Berger
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Laufstark.

Denn Das letzte Rennen spielt mitten im Trubel des Frankfurt-Marathons und wurde 2005 auch tatsächlich im Rahmen der realen Massenveranstaltung produziert: Der Hessische Rundfunk installierte neun Drehteams entlang der Strecke und fing 20 intensive Filmminuten unter Live-Bedingungen in der Frankfurter City ein, die an Authentizität kaum zu überbieten sind.

Unter den Läufern ist auch Hauptkommissar Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf), der bei seinem achten Einsatz lange Zeit nur eines im Kopf hat: Gemeinsam mit seiner Laufgruppe um den erfahrenen Trainer Henry Dankquardt (Karl Kranzkowski, Hexentanz) will er den Marathon unter der magischen Marke von vier Stunden absolvieren.

Davon lässt sich der Ermittler auch nicht abbringen, als ihn am Vorabend des Starts die Nachricht erreicht, dass Schwerverbrecher Petar Gricic (Gezim Maraj) aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und er von seinem Chef Rudi Fromm (Peter Lerchbaumer) ins Präsidium zitiert wird: Dellwo gibt sich in der Teambesprechung desinteressiert, kennt nicht einmal den Namen des neuen Kriminalassistenten Jan Gröner (Sascha Göpel) und muss prompt ein Donnerwetter über sich ergehen lassen. Nur seine Kollegin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki), die wie so häufig im Frankfurter Tatort den Ruhepol des Krimis bildet, zeigt Verständnis und gibt ihrem alleinstehenden Partner warme Worte mit in den Feierabend.


DELLWO:
Wenn ich nicht langsam den Kopf freikriege, dann kriege ich irgendwann 'nen Herzkasper oder 'nen Magengeschwür oder sonst irgendwas. Und dann sitzt niemand an meinem Bett und ist für mich da.

SÄNGER:
Ich würde kommen.


Regisseur Edward Berger (Wer das Schweigen bricht) hat einen unheimlich temporeichen und dynamischen Tatort inszeniert, der fast in Echtzeit abläuft und nicht nur den tausenden Läufern in der Bankenmetropole, sondern auch dem Publikum die Schweißtropfen auf die Stirn treibt: Schnell scheint klar, dass es der entflohene Sträfling auf seinen alten Widersacher Dellwo abgesehen hat und mit seinem Scharfschützengewehr an der Strecke auf ihn lauert – und als nach 30 Minuten ein schwedischer Läufer aus dem Hinterhalt erschossen und Dellwo dabei nur um Haaresbreite verfehlt wird, ist das Sichten der Überwachungskamerabilder der bis dato elektrisierendste Moment dieser spannenden Tatort-Folge.

Die Filmemacher nehmen den Zuschauer mit wackeliger Handkamera direkt mit ins Getümmel, wir sind mittendrin statt nur dabei – und dann platzieren sie nach einer guten Stunde plötzlich einen überraschenden Twist, der das Geschehen noch einmal auf den Kopf stellt.

Bei näherem Hinsehen offenbart das wendungsreiche Drehbuch von Judith Angerbauer und Lars Kraume (Wo ist Max Gravert?) aber auch logische Schwächen: Wenn es der Täter doch allein auf Dellwo abgesehen hat, um persönliche Rache an ihm zu nehmen, warum wählt er dann ausgerechnet den Marathon als vermeintlich günstige Gelegenheit für die Tat? Ein Hinterhalt nach Feierabend würde sich im Hinblick auf einen Mordanschlag viel einfacher gestalten, da die große Bühne rein organisatorisch ein erheblicher Nachteil ist – und auch die Suche der Ermittler nach dem tapfer mitlaufenden Dellwo als "Nadel im Heuhaufen" gestaltet sich im Film kniffliger, als sie dank der Chip-Ortung im Laufschuh eigentlich sein sollte.

Ein wenig weltfremd mutet darüber hinaus der überzeichnete Auftritt von Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) an, dem herzlich egal ist, dass nach dem schwedischen Läufer noch weitere Sportler ums Leben kommen könnten – wer es mit der Realitätsnähe sehr genau nimmt, dem bietet Das letzte Rennen also erhebliche Angriffsfläche. Der hohe Unterhaltungswert, die spektakulären Bilder aus der City von Mainhattan und der spektakuläre Showdown entschädigen aber für so manches Logikloch – da fällt es auch nicht allzu schwer ins Gewicht, dass das Tatmotiv zwar glaubwürdig ausfällt, aber sehr oberflächlich ausgearbeitet wird.

Beim Blick auf die solide Besetzung lohnt sich in der 644. Folge der Krimireihe im Übrigen das genaue Hinsehen: Mit Stefan Konarske, der 2012 in Alter Ego seinen Dienst als Dortmunder Ermittler Daniel Kossik antritt, und Wolfram Koch, der 2015 in Kälter als der Tod als Paul Brix in Frankfurt debütiert, sind zwei spätere Tatort-Kommissare in Nebenrollen als Hobbyläufer bzw. Veranstalter des Marathons zu sehen.

Bewertung: 7/10

Aus der Traum

Folge: 643 | 15. Oktober 2006 | Sender: SR | Regie: Rolf Schübel
Bild: SR/Manuela Meyer
So war der Tatort:

Zerstritten. 

Der Saarbrücker Kriminaloberkommissar Stefan Deininger (Gregor Weber), als ehemaliger Kollege des pensionierten Hauptkommissars Max Palu (Jochen Senf) eigentlich als dessen Nachfolger und neuer Leiter des Kommissariats designiert, ist nämlich alles andere als begeistert, als man ihm unverhofft einen "Schülerlotsen aus Bayern"  vor die Nase setzt. 

Franz Kappl (Maximilian Brückner, Tod auf der Walz) ist sein Name, Tuba spielen sein nachbarstressendes Hobby und "Kriminalhauptkommissar" steht auf seiner Visitenkarte. Zum Spott seiner neuen Kollegen in der saarländischen Landeshauptstadt bringt Kappl neben süßem Senf und anderen bayerischen Spezialitäten als moderner Ermittler auch US-Erfahrung mit in die Provinz, lässt Gaffer am Tatort filmen und weiß zu jedem Verhaltensmuster sogleich eine Statistik zu zitieren. 

Nicht nur aufgrund seiner Amerika-Jahre erinnern die ersten Begegnungen von Kappl und Deininger an die der Kölner Kollegen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), die bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in Willkommen in Köln ähnlich lautstark aneinander geraten, weil Ballauf Schenk die sicher geglaubte Beförderung wegschnappt. 

Auch der Krimititel ist nicht ganz neu: Aus der Traum hieß 1986 bereits eine Folge mit der Mainzer Hauptkommissarin Hanne Wiegand (Karin Anselm) – eines der wenigen Beispiele dafür, dass im Tatort-Kosmos in Ausnahmefällen auch Titeldopplungen möglich sind.

Nach einer Dreiviertelstunde und einem gemeinsamen Mittagessen (inkl. Cameo-Auftritt von TV-Köchin Lea Linster) haben sich die erhitzten Gemüter zumindest halbwegs wieder abgekühlt, so dass sich das neue Ermittlerduo aus Saarbrücken auf den ersten gemeinsamen Fall konzentrieren kann. 

Der ist für Deininger ein ganz persönlicher: Seine geliebte Ex-Kollegin Kathi Schaller (Vaile Fuchs, Der Traum von der Au), die zuvor noch als Marilyn Monroe-Double auf seiner Geburtstagsfeier ein Ständchen zum Besten gegeben hatte, wird mit drei Schüssen in ihrer Wohnung getötet. 

Unterstützt werden Kappl und Deininger bei ihren Ermittlungen zum einen von Spurensicherungsleiter Horst Jordan (Hartmut Volle), der auch bei ihren Nachfolgern Stellbrink und Marx an Bord bleibt, zum anderen von Gerichtsmedizinerin Dr. Rhea Singh (Lale Yavas, Dunkle Wege), die mit den Leichen auf ihrem Untersuchungstisch Gespräche führt und bei ihrem Debüt einen äußerst merkwürdigen Eindruck hinterlässt. 

Die bereits zu Palu-Zeiten etablierte Tradition der grenzüberschreitenden Ermittlungen setzt sich auch bei Kappl und Deininger fort, die bald in Kontakt mit dem Zoll und französischen Revolverhelden geraten. 

Während der prominent besetzte Cast um TV- und Kinogrößen wie Burghart Klaußner (Schatten) und Andreas Schmidt (Altlasten) durch die Bank überzeugt, schwächelt das Drehbuch von Fred und Léonie-Claire Breinersdorfer vor allem auf der viel zu versöhnlich angelegten Zielgeraden: Ein bisschen weniger Friede, Freude, Eierkuchen hätte dem 643. Tatort, den Regisseur Rolf Schübel (Der Tote vom Straßenrand) ansonsten solide in Szene setzt, deutlich besser zu Gesicht gestanden.

Bewertung: 5/10

Pauline

Folge: 640 | 24. September 2006 | Sender: NDR | Regie: Niki Stein
Bild: NDR/Christine Schröder
So war der Tatort:

Kommissarreich. 

Dass LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) bei ihren Ausflügen in die niedersächsische Provinz in der Regel von der ortsansässigen Dorfpolizistin – diesmal: der auffallend unterwürfigen Katharina Lichtblau (Johanna Gastdorf, Gestern war kein Tag) – unterstützt wird, ist zwar nichts Neues. Doch die Besetzung von Pauline ist aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert. 

Neben Furtwängler zählen nämlich auch zwei spätere Tatort-Kommissare zum Cast: Martin Wuttke (Todesstrafe),der ab 2008 als Hauptkommissar Andreas Keppler mit Eva Saalfeld (Simone Thomalla) in Leipzig auf Täterfang geht, und Wotan Wilke Möhring (Mord auf Langeoog), der als Bundespolizei-Ermittler Thorsten Falke ab 2013 in Norddeutschland zum Einsatz kommt, sind in der Rolle als Vater und Freund des Opfers ebenso mit von der Partie wie viele weitere prominente deutsche TV-Gesichter. 

Corinna Harfouch (Die Ballade von Cenk und Valerie) mimt Martha Kandis, die Mutter des Opfers, Max Mauff (Kleine Herzen) den Jugendlichen Moritz, Anna Maria Mühe (Stille Wasser) die große Schwester Nele, Thomas Arnold (Eine andere Welt) den an einer Kussphobie leidenden Patenonkel Guntram Schollenbruch und Max Herbrechter (Quartett in Leipzig) den Dorfpfarrer Melchior Lichtblau, der nicht weiß, wie er seiner aufgeschreckten Gemeinde den Tod der 12-jährigen Pauline (Nelia Novoa) begreiflich machen soll. 

Denkt man an das ungeschriebene Tatort-Gesetz, dass der prominenteste Nebendarsteller meist den Mörder mimt, genießt der 640. Tatort also einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil: Die TV-Stars geben sich praktisch die Klinke in die Hand und die Auflösung fällt schwer wie selten.

Drehbuchautorin Martina Mouchot (Sonne und Sturm) und Regisseur Niki Stein (Das Böse) konstruieren nahe der niedersächsischen Samtgemeinde Jesteburg einen Whodunit der klassischsten, wenn auch selten wirklich spannenden Sorte: Eine Handvoll Verdächtiger, die alle mehr oder weniger starke Tatmotive mitbringen, eine knappe, aber präzise Einleitung, in der sich die verschiedenen Dorfbewohner zu Wolle-Petry-Coversongs auf dem Dorffest betrinken, und bodenständige Ermittlungsarbeit, bei der die grippegeschwächte Lindholm diesmal weniger fleißig von ihrem Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) unterstützt wird. Der ist gesundheitlich nämlich gehandicapt und spielt zu Reha-Zwecken lieber mit drei Rentnerinnen Doppelkopf, als Charlotte bei der Tätersuche zur Hand zu gehen. 

Diese nervtötenden und leider gänzlich witzlosen Spannungskiller hätte man besser aus dem Drehbuch gestrichen – eine Folge ohne Naujoks, der die hoffnungslos überzeichnete Rolle als treudoofer Schriftsteller 2010 frustriert niederlegt, hätte dem Tatort aus Hannover auch 2006 schon gut zu Gesicht gestanden. Außer Naujoks wird aber auch der Rest der prominenten Darstellerriege – allen voran die vollkommen verschenkte Anna Maria Mühe – selten gefordert: Einzig Martin Wuttke darf in der Rolle als trauernder Vater angetrunken durch die Dorfkneipe berserkern. 

Und Furtwängler? Die lässt sich tatsächlich bei einem harmlosen Stiefel-Fehltritt in den Bach, an dem die Leiche gefunden wird, doublen (einfach mal auf Schnitt und Kameraführung achten): Die Füße könnten ja nass werden. Pauline ist dennoch sehenswert – ein bisschen holprig inszeniert, aber prominent besetzt und mit einer kniffligen Auflösung gesegnet.

Bewertung: 6/10

Mann über Bord

Folge: 639 | 10. September 2006 | Sender: NDR | Regie: Lars Becker
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Schwedisch.

Denn bei seinem siebten Einsatz für die Krimireihe ermittelt Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) nicht allein auf norddeutschem Terrain, sondern pendelt des Öfteren auf der "Scandinavica", einer Fähre zwischen seinem eigentlichen Einsatzort Kiel und der schwedischen Hafenstadt Göteborg. Der Grund dafür ist das plötzliche Verschwinden von Hans Venske (Jan-Gregor Kremp, Frauenmorde): Er arbeitet als Kapitän auf eben jener Fähre, auf der sich einleitend zufällig auch Borowski befindet, als er gerade von einem Angelurlaub zurückkehrt und direkt zum Ansprechpartner für die besorgte Crew wird. Wie praktisch!

Die Ausgangssituation der 639. Tatort-Folge ist damit durchaus interessant – stellt sich doch zunächst die Frage, was mit dem titelgebenden Mann über Bord überhaupt geschehen sein mag. Ein schlichter Suizid? Ein ausgeklügelter Versicherungsbetrug? Oder doch ein klassischer Mord? 

Verdächtige gibt es jedenfalls reichlich: Da ist allen voran der trinkfreudige Erste Offizier Björndahl (stark: Peter Haber, spielte in der schwedisch-deutschen Erfolgsserie Kommissar Beck den titelgebenden Ermittler), der mit seiner Position als Nummer Zwei auf dem Schiff unzufrieden ist und kurz vor dem Verschwinden seines Vorgesetzten Streit mit Venske hatte. Gleiches gilt für die unbekannte Frau, mit der Venske noch auf der Brücke telefonierte, um danach mit zwei Sektgläsern in seiner Kabine zu verschwinden. Dass es sich bei der geheimnisvollen Anruferin nicht, wie vom Kapitän behauptet, um Annemarie Venske (Catrin Striebeck, Atemnot) handelt, die treusorgende, aber oft alleingelassene Ehefrau, stellt diese gegenüber Borowski sichtlich verwundert klar. Und was weiß der zurückhaltende Steuermann Töre (Volker Zack Michalowski, Der Traum von der Au)?

So vielversprechend der Auftakt sich gestaltet, schaffen es die Filmemacher um Regisseur Lars Becker (Der Weg ins Paradies) und Drehbuchautorin Dorothee Schön (Bitteres Brot) in der Folge nicht immer, die sich bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen und das Anfangsniveau zu halten. Echte Überraschungsmomente bleiben eine Seltenheit, etwa wenn Borowski mit der schwedischen Kollegin Wallström (Ewa Fröling) die Sachen des Vermissten durchsucht und dabei in dessen Spind nicht nur eine Kinderzeichnung findet, sondern auch feststellt, dass es sich bei der Begünstigten der vorhandenen Lebensversicherung mitnichten um Frau Venske handelt. 

Ansonsten ist die deutsch-schwedische Zusammenarbeit eine reizvolle Idee, geht aber bisweilen auf Kosten der Spannung. Die Befragungen des Kommissars auf der Scandinavica bringen kaum neue Erkenntnisse und bremsen die Handlung eher aus. Dass an der Schiffsbar zweimal sanft The winner takes it all von ABBA zu hören ist, bleibt motivisch gesehen ein nettes Bonmot, tröstet aber nicht darüber hinweg, dass auch die Auflösung früh zu erahnen ist und erfahrene Krimifans kaum vor größere Probleme stellen dürfte. Da Borowski die entscheidende Äußerung überhört oder nicht richtig deutet, zieht sich das letzte Drittel des Films auch etwas in die Länge.

Was Mann über Bord dennoch zu einem sehenswerten Tatort macht, ist etwa die stärkere Präsenz von Frieda Jung (Maren Eggert), die bis dato lediglich für die Psyche des Kommissars zuständig war, hier aber in ihrer Funktion als Kriminalpsychologin auch erstmals aktiv in den Fall involviert ist. Das große Potenzial in der Beziehung zwischen ihr und Borowski, das den Kieler Tatort auch in den kommenden Jahren bereichert, wird hier zwar vorerst nur angedeutet – das Zusammenspiel funktioniert aber auf Anhieb und wirkt ungemein erfrischend. Ebenfalls positiv hervorzuheben sind die fein dosierten, treffsicheren Gags, etwa wenn Borowski und Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) darüber philosophieren, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, eine Leiche im offenen Meer zu finden.


SCHLADITZ:
Glaubst du im Ernst, wir finden die Leiche?

BOROWSKI:
Mit etwas Glück. Dort gibt es viele Dorschkutter.

SCHLADITZ:
Venske ist in der Zwischenzeit Dorschfutter.


Wer über die genannten Drehbuchschwächen hinwegsehen kann, sieht einen soliden und über weite Strecken unterhaltsamen Krimi – und kann sich darüber hinaus am Spiel des hervorragend aufgelegten Casts erfreuen. Zu dem zählt auch Martin Brambach, der ab 2016 den cholerischen Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel im Tatort aus Dresden mimt und hier in einer kleineren Nebenrolle als Bürochef der Kieler Reederei zu sehen ist.

Bewertung: 6/10

Der Lippenstiftmörder

Folge: 638 | 27. August 2006 | Sender: SWR | Regie: Andreas Senn
Bild: SWR/Jaqueline Krause-Burberg
So war der Tatort:


Verkatert. 

Der Ludwigshafener Ermittler Mario Kopper (Andreas Hoppe) wacht morgens nämlich nicht nur neben einer hübschen weiblichen Begleitung, mit der er am Vorabend einen über den Durst getrunken hat, sondern vor allem mit einem gehörigen Brummschädel auf. Die Folge: Hauptkommissarin und Mitbewohnerin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) muss sich beim gemeinsamen WG-Frühstück nicht nur sein Wehklagen anhören, sondern auch noch hinnehmen, dass Kopper seinem Betthäschen erfolgreich vorgaukelt, Lena sei seine Schwester. 

Der 638. Tatort, in dem der Autoliebhaber in der ersten Viertelstunde konsequent eine dunkle Sonnenbrille trägt und sich vorwiegend durch Stöhnen und amüsantes Gemecker bemerkbar macht, fällt für einen Tatort aus Ludwigshafen auffallend heiter aus. Ob es daran liegt, dass Odenthal und Kopper der tristen Stadt schon bald den Rücken kehren und sich aufs Land wagen? 

Ermittelt wird dies mal im beschaulichen Angerburg, einem kleinen Dörfchen, das ebenso fiktiv ist wie die örtliche forensische Klinik Engelsried, in der der gefährliche Serienmörder Holly (Ole Puppe, Schweinegeld) unweit vom Fundort einer Mädchenleiche einsitzt. Doch wenngleich der Folgentitel es nahelegen mag: Der Lippenstiftmörder erzählt keine klassische Suche nach einem Serientäter. Holly ist nur einer aus einem halben Dutzend Tatverdächtiger und hat zudem das beste Alibi – die meterhohen Mauern der Anstalt.

Sicher sein kann sich der Zuschauer trotzdem nie, ob der clevere Insasse nicht doch einen Weg zur Flucht gefunden hat – mit Volleyballtrainer Rolf Czerni (Dirk Borchardt, Borowski und die Frau am Fenster) und seiner krankhaft eifersüchtigen Frau (Sybille J. Schedwill, Lastrumer Mischung), dem trauernden Ex-Lover Florian (Constantin von Jascheroff, Heimatfront) und der argwöhnischen Schulfreundin Caro (Laura-Charlotte Syniawa) stehen aber viele bekannte TV-Gesichter (und damit reichlich ernstzunehmende Alternativen) bei der Suche nach dem Mörder zur Auswahl. 

Dass die Charakterzeichnung bei der einen oder anderen Nebenfigur auf der Strecke bleibt, stört kaum, da Drehbuchautor Christoph Darnstädt (Vergissmeinnicht) und Regisseur Andreas Senn (Vermisst) zumindest den in der Klinik einsitzenden Lippenstiftmörder angenehm differenziert beleuchten und nicht vorschnell als kranken Irren oder geheilten Sympathieträger abstempeln. 

Ein solches Vorgehen hätte man sich freilich auch bei manch anderer Folge aus Ludwigshafen gewünscht – man denke nur an Fette KriegerDer Wald steht schwarz und schweiget oder Die Sonne stirbt wie ein Tier. Der Lippenstiftmörder ist zweifellos zwei Klassen besser.

Bewertung: 7/10

Stille Tage

Folge: 632 | 21. Mai 2006 | Sender: Radio Bremen | Regie: Thomas Jauch
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Mal still, mal weniger still – das hängt ganz davon ab, wer in diesem Tatort gerade aneinander gerät. 

Stille Tage erlebt Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) vor allem dann, wenn sie ihren an Alzheimer erkrankten Vater besucht, der in einem düster-sterilen Pflegeheim ins Leere starrt und seine eigene Tochter nicht mehr erkennt. Aber auch die Tage von Manfred Schirmer (Joachim Król, Häschen in der Grube) kennzeichnet Stille, seit seine Frau Anne ermordet wurde. 

Bei der Suche nach ihrem Mörder wird Lürsen wie gewohnt von ihrem Kollegen Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) unterstützt – mehr als einmal liegt dieser allerdings mit Vermutungen daneben, und da ist es dann schnell vorbei mit der Stille: Die Bremer Hauptkommissare zoffen sich bei ihrem zehnten gemeinsamen Einsatz so heftig wie selten. 

Das liegt aber nicht nur an Stedefreunds Patzern, sondern auch daran, dass die emotional angeschlagene Lürsen mit dem Hauptverdächtigen Schirmer anbandelt und bei den Ermittlungen nicht gerade durch Professionalität glänzt: Gegenseitige Vorwürfe, Schuldeingeständnisse (Lürsen: "Ich habe mich wie eine Anfängerin verhalten!") und Versöhnungsversuche prägen die Ermittlungsarbeit. 

Auch privat wird Lürsen mit dem Vorwurf ihrer Tochter Helene Reinders (Camilla Renschke) konfrontiert, ihren Vater vernachlässigt zu haben – und so kommt es im Pflegeheim zum bitterbösen Wortgefecht zwischen Lürsen und ihrer 2010 zur Chefin beförderten Tochter, der das Dilemma um kranke Angehörige (dass auch im Berliner Tatort Edel sei der Mensch und gesund, im Stuttgarter Tatort Altlasten oder im Münchner Tatort Gestern war kein Tag thematisiert wird) gelungen auf den Punkt bringt.


LÜRSEN:
Wenn's dir hier nicht gefällt, dann kannst du ihn ja pflegen.

REINDERS: 
Wie stellst du dir das vor? Ich bin mitten in der Ausbildung.

LÜRSEN:
Ach, wie unhöflich von dem alten Herrn, dass er sich mit seinem Schwachsinn nicht noch ein bisschen Zeit gelassen hat!


Bei der Suche nach dem Mörder stapft Lürsen im trist gezeichneten Bremer Umland herum und fällt dabei schon mal in eine Jauchegrube – eine der wenigen Szenen, die beim Publikum für einen Lacher sorgen sollen. 

Deutlich humorloser, dafür umso interessanter ist die alleinlebende Barbara Scheuven (großartig: Grimme-Preisträgerin Karoline Eichhorn, HAL): Zwar unterstützt die argwöhnische Nachbarin die Kommissare mit Hinweisen und den trauernden Witwer mit Selbstgebackenem, doch scheint das von Selbstzweifeln zerfressene Mauerblümchen mehr zu wissen, als über ihre verkrampften Lippen nach außen dringt. 

Neben der eindringlichen Charakterstudie der Hauptverdächtigen Schirmer und Steuven sorgt auch das Rätselraten um den Mörder für gute Unterhaltung, wenngleich die Befragungen der übrigen Verdächtigen so oberflächlich ausfällt wie deren Charakterzeichnung: Bauer und Emu-Züchter Hartmut Klemme (Roland Renner, Parteifreunde) ist eine von vielen eindimensionalen Figuren, darf aber zumindest einen sozialkritischen Seitenhieb austeilen – seine astreinen Äpfel dürfen wegen neuer Auflagen nicht mehr an die Schweine verfüttert werden und so schaufelt er sie kurzerhand auf den Kompost. 

Vater und Liebhaber der Toten hingegen scheinen nicht sonderlich erschüttert: Routinemäßig gehen sie während der Befragungen ihren gewohnten Tätigkeiten nach – eine Unart, die im Tatort häufig zu beobachten ist und auch hier störend wirkt. 

Blass bleibt auch der lethargische Kriminalassistent Karlsen (Winfried Hammelmann), der mit seinen auswendig gelernten Monologen einmal mehr wie ein Laiendarsteller wirkt, den Bremer Ermittlern aber noch bis 2015 (letzter Auftritt in Die Wiederkehr) helfend zur Seite stehen darf. Besonders brav erscheint seine angepasste Arbeitsweise im direkten Vergleich zur toughen Linda Selb (Luise Wolfram), die 2016 in Der hundertste Affe ihr Bremer Debüt als eigenwillige BKA-Kollegin feiert. 

Trotz der schwächelnden Nebenfiguren und einer eher knapp vorgetragenen Auflösung gelingt Drehbuchautor Jochen Greve (Großer schwarzer Vogel) und Regisseur Thomas Jauch (Zahltag) unter dem Strich aber ein spannendes Krimidrama, das vor allem mit den starken Leistungen der beiden wichtigsten Nebendarsteller punktet: Insbesondere Charakterdarsteller Joachim Król, der von 2011 bis 2013 als Hauptkommissar Frank Steier in Frankfurt ermittelt, brilliert im 632. Tatort als undurchsichtiger Ehemann, dessen Wesen vom liebevoll-sensiblen Charmeur bis zum jähzornigen Choleriker reicht.

Bewertung: 7/10

Außer Gefecht

Folge: 630 | 7. Mai 2006 | Sender: BR | Regie: Friedemann Fromm
Bild: BR/TV 60 Film/Vietinghoff
So war der Tatort:

Entzweit. 

Drehbuchautor Christian Jeltsch (Wie einst Lilly) hat sich für den 43. Einsatz von Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) nämlich etwas Besonderes einfallen lassen: Sieht man von den ersten Minuten im eleganten Drehrestaurant des Münchner Olympiaturms ab, sind die beiden Hauptkommissare in Außer Gefecht getrennt voneinander unterwegs. 

Wobei: Unterwegs ist eigentlich nur Batic, der Carlo Menzinger (Michael Fitz) im Schlepptau und zugleich alle Hände voll zu tun hat, denn Leitmayr steckt fast über die komplette Spielzeit mit einem überführten Killer im Fahrstuhl fest. 

Ein einleitender Undercover-Einsatz der beiden Kommissare, die sich in piekfeine Kellner-Outfits werfen und bei ihrer Fahndungsaktion zerstreiten, geht völlig in die Hose: Der Krankenpfleger Johannes Peter Peschen (Jörg Schüttauf, Jagdfieber), kann sich bei der Festnahme mit Leitmayr absetzen und ihm im Fahrstuhl eine Spritze in den Oberarm rammen. Nur was injiziert ihm der von den Medien zum "Todesengel" stilisierte Mann, der zwölf Menschenleben auf dem Gewissen hat?

Daraus machen Jeltsch und Regisseur Friedemann Fromm (...es wird Trauer sein und Schmerz) lange Zeit ein Geheimnis – fest steht nur, dass es Leitmayr von Minute zu Minute schlechter geht und Peschen nichts mehr zu verlieren hat. 

Entzweit ist der 630. Tatort aber auch in einem anderen Sinne: Die Filmemacher bringen mit Bravour zwei vom Erzählton her gänzlich verschiedene Handlungsstränge in Einklang, denn die packenden Thrillermomente im Fahrstuhl sind nur Teil der sauber ausgearbeiteten Rahmenhandlung um das vieldiskutierte Thema Sterbehilfe und Altenpflege.

Immer wenn sich im Fahrstuhl eine Länge einzuschleichen droht, nehmen die Ermittlungen von Batic und Menzinger an Fahrt auf – und umgekehrt. Schnell wird klar, dass der vermeintliche Massenmörder Peschen nur das getan hat, was in Deutschland trotz vieler Befürworter verboten ist: aktive Sterbehilfe bei dementen oder todkranken Menschen durchzuführen. 

Statt ausufernder Sozialkritik (wie oft im Kölner Tatort) oder dem Druck auf die Tränendrüse (wie im überschätzten Sterbehilfe-Tatort Der glückliche Tod) arbeiten die Filmemacher die Schwächen des deutschen Pflegesystems mit feinem Gespür für das Wesentliche heraus: Laut Krankenpflegerin Inge Kehrer (Ulrike Krumbiegel, Unter uns) kommen in ihrer Klinik auf 150 Demenzkranke höchstens zwei bis drei Pfleger – angesichts solcher Zahlen und dem daraus resultierenden Zeitmangel der Pflegekräfte braucht es nur wenige anklagende Worte, um Verständnis für den Täter zu wecken. 

Der gibt sich ebenfalls wortkarg: Dass sich der Bayerische Rundfunk bei der Besetzung des Bösewichts ausgerechnet für Jörg Schüttauf entschied, der zeitgleich als Hauptkommissar Fritz Dellwo im Tatort aus Frankfurt auf Täterfang geht, ist etwas irritierend, und Schüttauf wirkt in seiner ungewohnten Rolle auch nie ganz glücklich. Schauspielerisch wirft er nicht viel in die Waagschale, und seine schwarzen Haare und die Brille dienen offenbar in erster Linie dazu, sein Parallel-Engagement in Frankfurt zumindest optisch ein wenig zu verschleiern. 

Macht aber nichts: Außer Gefecht entwickelt sich trotz der nicht optimalen Besetzung zu einem packenden Wettlauf gegen die Zeit, der von einem stimmungsvollen Soundtrack vorangetrieben wird und mit cleveren Wendungen gespickt ist. Weil das Rettungsteam auf sich warten lässt, liegt es an Batic, Menzinger und Polizeibeamtin Charlie Peetz (Kathrin von Steinburg), zu Leitmayr und Peschen vorzudringen – aber der Münchner Tatort wäre nicht der Münchner Tatort, wenn er außer dieser dramatischen Rettungsaktion nicht noch so viel mehr zu erzählen hätte.

Bewertung: 9/10

Pechmarie

Folge: 625 | 19. März 2006 | Sender: WDR | Regie: Hendrik Handloegten
Bild: WDR/Uwe Stratmann
So war der Tatort:

Naheliegend.

Schließlich hat der WDR seit 1997 mit den beliebten Kölner Hauptkommissaren Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Diemar Bär) ein Tatort-Duo unter seinen Fittichen, das mit einer (im positiven Sinne) emotionalen Hau-drauf-Mentalität seine Fälle löst, den moralischen Zeigefinger hebt und mit ernster Tonalität bei gesellschaftlichen Themen den Finger in die Wunde legt – etwa in Folgen wie Manila oder Kinder der Gewalt. Was wäre da wohl naheliegend, um mal etwas Abwechslung in diese Sonntagsroutine zu bringen?

Genau: Für das Drehbuch beauftragt man als Sender einfach ein eingespieltes Autorenduo, mit dem man schon mehrfach erfolgreich zusammengearbeitet hat und das die Krimireihe seit 2002 gehörig aufmischt. Die für den humorvollen und ebenfalls vom WDR in Auftrag gegebenen Tatort aus Münster verantwortlichen Stefan Cantz (Sag nichts) und Jan Hinter (Der doppelte Lott) schrieben die Geschichte zu Pechmarie. Mit Hendrik Handloegten (Der tote Chinese) führt ein preisgekrönter Filmemacher Regie und heraus kommt ein durchaus ungewöhnlicher, aber bemerkenswerter Tatort. Klaus J. Behrendt sagte 2006 dazu: "So habe ich uns noch nie gesehen."

Schon der Auftakt der 625. Tatort-Folge gestaltet sich eigenwillig: Ein Juwelier wird von zwei Maskierten überfallen. Die Räuber haben es auf wertvolle Diamanten abgesehen. Beim Überfall kommt es zu einer Auseinandersetzung, bei der der Juwelier erschossen und einer der Täter verletzt wird. Die zweite am Überfall beteiligte Person schnappt sich kurzerhand die Beute und lässt ihren verwundeten Komplizen einfach schreiend zurück. Eine skurrile Szene, die entfernt an die Coen-Brüder und ihren Klassiker Fargo erinnert. Als Ballauf und Schenk, die bei ihrem 34. Einsatz erneut auf die Unterstützung des meist gut gelaunten Polizeihauptmeisters Heinz Obst (Arved Birnbaum) zurückgreifen können, am Tatort eintreffen, sind die Räuber verschwunden. 

Cantz und Hinter machen in der Folge aber kein Geheimnis aus der Identität von Bonnie und Clyde, die fortan getrennt unterwegs sind. Die Aussage einer Hotelangestellten (Katharina Schmidt) führt auf die Spur der titelgebenden (und vom Grimmschen Märchen "Frau Holle" inspirierten) Pechmarie Marie Menke und ihres Freundes Heiner Wolff (Peter Moltzen, Brandmal). Letzterer nimmt kurzerhand den diesmal auffallend mürrischen Rechtsmediziner Dr. Roth (Joe Bausch) als Geisel und lässt sich von ihm in der Pathologie notverarzten. Nichts für zartbesaitete Gemüter und gleichzeitig einer der bis heute erinnerungswürdigsten Auftritte des Pathologen. Er steht seinem Münsteraner Kollegen Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) im schicken Anzug und in Sachen Schlagfertigkeit diesmal in nichts nach.


WOLFF:
Haben Sie nicht irgendwas gegen die Schmerzen? Morphium oder irgendwas?
DR. ROTH:
Ich bin hier nicht auf Laufkundschaft eingestellt. Meine Patienten brauchen keine Schmerzmittel mehr.


Die Suche nach dem flüchtigen Gaunerpärchen bildet die kriminalistische Antriebsfeder in diesem unterhaltsamen Howcatchem. Die Ermittler wenden sich an Sophie Menke (Nicolette Krebitz, Alles hat seinen Preis), die Schwester der Flüchtigen, in der Hoffnung, sie könnte sich bei ihr melden. Aber auch der ehemaliger Schauspiellehrer der Gesuchten, Christof Rüter (Thorsten Merten, mimte von 2013 bis 2021 den Kommissariatsleiter Kurt Stich im Tatort aus Weimar), gerät ins Visier der Ermittler. Der eigentliche Fall ist dabei schnell Nebensache – der Tatort aus Münster lässt grüßen. Raum zur Entfaltung bekommen in der mit schwarzem Humor gespickten Krimikomödie vielmehr die Nebenfiguren und Randgeschichten.

Freddy Schenks Angst vor Scharlach etwa, ironisch unterfüttert durch den Verweis auf Molières Theaterstück Der eingebildete Kranke, zieht sich als Running Gag durch den Film. Der mittellose Opernsänger Antonio Bartolini (Alexander Sascha Nikolic), Sophie Menkes Ex-Verlobter, schmettert Arien in Hausfluren, in Ballaufs Pension und im Präsidium. Er sorgt nicht nur für Kopfschütteln bei Staatsanwalt von Prinz (Christian Tasche), sondern erwärmt auch – wie könnte es anders sein – das Herz der stets unglücklich verliebten Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt). Auch Dorothea Walda (Hundeleben) als ältere Dame, die bei einer Gegenüberstellung Ballauf (!) als Täter identifiziert oder Peter Kern als Hehler Niedlich, der mit Wiener Schmäh die Kommissare an der Nase herumführt, wissen zu überzeugen. Erwähnt sei auch Milan Peschel (Querschläger), der sein großes schauspielerisches Potenzial bei zwei Kurzauftritten als drogensüchtiger Informant kaum zeigen darf und fast verschenkt wirkt.

Der Clou am Ende des Films wird zwar klug vorbereitet, verfehlt seine Wirkung aber doch, weil er – und damit schließt sich in dieser Kritik der Kreis – einfach zu naheliegend ist. Pechmarie ist dennoch eine sehenswerte Folge, auch weil sie die schon 2006 ziemlich ausgetretenen Kölner Pfade verlässt. Der humorvolle(re) Ansatz steht Ballauf und Schenk gut zu Gesicht. Dass Glaubwürdigkeit und Spannung in solchen Fällen oft zu kurz kommen – so auch hier – ist nicht überraschend. Der Verzicht auf den obligatorischen Besuch an der Wurstbude am Rhein schon, denn der ist im Kölner Tatort doch nun wirklich, genau: naheliegend.

Bewertung: 6/10

Das ewig Böse

Folge: 622 | 5. Februar 2006 | Sender: WDR | Regie: Rainer Matsutani
Bild: WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:

Meisterdetektivisch.

Über der 622. Tatort-Folge schwebt nämlich unverkennbar der Geist von Agatha Christie, der berühmten Autorin zahlreicher weltbekannter Krimi-Klassiker wie "Mord im Orient-Express" oder "Das Böse unter der Sonne" – ein Werk, dessen Titel dem der hier besprochenen Episode auffällig ähnelt und in dem Romanfigur Hercule Poirot dem Verbrechen wie so häufig auf der Spur ist.

Moment mal: Hercule Poirot? Ach ja, richtig! Ein stark von sich und seinen Fähigkeiten überzeugter belgischer Privatdetektiv mit stets makelloser Kleidung, dessen Egozentrik den steifen britischen Scotland-Yard-Chefinspektor häufig zur Verzweiflung treibt, ihm aber dennoch jedes Mal unschätzbare Dienste bei der Lösung seiner Fälle leistet. Kommt uns irgendwie bekannt vor, oder?

Es ist sicher kein Zufall, dass sich Regisseur und Drehbuchautor Rainer Matsutani (Tödliche Tarnung) bei seinem Tatort-Debüt für das Team aus Münster entschieden hat. Immerhin sind der mürrische Kriminalhauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und der eitle Gerichtsmediziner Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) geradezu prädestiniert für einen humorvoll angereicherten Fadenkreuzkrimi ganz nach Agatha-Christie-Art.

Bei ihrem neunten gemeinsamen Einsatz bekommen es die beiden dann auch mit einem ganz speziellen Mord zu tun, bei dem das Herz des einmal mehr blendend aufgelegten Pathologen und Agatha-Christie-Fan ("Er hat alle Bücher von ihr!") direkt höher schlägt.


BOERNE:
Jetzt fängt die Sache an, spannend zu werden. Ein raffinierter Giftmord. Schätze, wir haben hier einen echten Klassiker.


Boerne ist es auch, der bei der Suche nach dem Mörder von Franz Stettenkamp, Patriarch einer Keks-Dynastie, die ganz große Bühne bekommt. Und das schon direkt zu Beginn, als er bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Polizei – tatkräftig unterstützt von Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) und in Anwesenheit von Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) – seine Fähigkeiten als Hobby-Magier unter Beweis stellen darf. Hierbei entlockt er versehentlich der hypnotisierten Helena Stettenkamp (wunderbar undurchsichtig: Teresa Weißbach), der Enkeltochter des Verstorbenen, Zeugin des Mordes an ihrem Großvater gewesen zu sein.

Wer aber Franz Stettenkamp, der vor seinem Tod offenbar hinter ein dunkles Familiengeheimnis gekommen war und seine gesamte Sippschaft enterben wollte, das Gift in Form von firmeneigenem Konfekt verabreicht hat, bleibt lange Zeit offen. Dafür wird schnell klar – Agatha Christie hätte es gefallen – dass der Mörder nur aus der Familie selbst stammen kann.

Schließlich waren alle Angehörigen am Morgen des Mordes vor Ort und so kommt praktisch jeder in Frage: Enkel und Lebemann Boris Stettenkamp (herrlich provokant: Aleksandar Jovanovic, Gott ist auch nur ein Mensch), den sein Opa aus der Firma werfen wollte, ist ebenso verdächtig wie Sohn Cornelius Stettenkamp (Jürg Löw, Direkt ins Herz) als neues Familienoberhaupt und dessen herrische Frau Sieglinde (Karoline Eichhorn, Murot und das Prinzip Hoffnung). Und nicht zu vergessen: Dr. Frederick Pleikart (Martin Rentzsch, Hinter dem Spiegel), den das Opfer vor seinem Tod wegen Unterschlagung angezeigt hatte.


BOERNE:
Bei Agatha Christie würde jetzt Hercule Poirot die Verdächtigen um sich scharen und in brillanter Manier den Täter überführen.


Dass die Tätersuche bis zum Schluss spannend bleibt und auch die Auflösung überraschend ausfällt, zählt zu den großen Stärken des Films. Auch das Zusammenspiel zwischen Thiel und Boerne, dem es dieses Mal aus bereits genannten Gründen vorbehalten ist, durch geschickte Recherchen, zügige Obduktionsergebnisse und treffende Schlussfolgerungen den Fall entscheidend voranzubringen, funktioniert blendend und sorgt für den einen oder anderen Schmunzelmoment. Beispielhaft sei hier die Sequenz am Ende des Films angeführt, als Thiel im Stile Poirots alle Tatverdächtigen zusammenbringt, um den Täter zu entlarven, in diesem Moment dem Herrn Professor aber ausnahmsweise so ein klein wenig die Show stiehlt.

Matsutani verzichtet zudem auf überflüssige Nebenhandlungsstränge aus dem Privatleben der Ermittler und sorgt dadurch dafür, dass der Fall nicht aus dem Fokus gerät. Lediglich Thiels Disput mit seinem Erzeuger Herbert "Vaddern" Thiel (Claus Dieter Clausnitzer), der zur Abwechslung mal nicht allein auf sein Image als kiffender Alt-68er reduziert wird, dafür aber das Ersparte seines Sohnes in illegale Pferdewetten investiert (ob das jetzt so viel besser ist?), bildet hier die Ausnahme. Andererseits, irgendwie wollen ja auch die Nebenfiguren untergebracht werden.

Und genau an dem Punkt schwächelt der ansonsten so schwungvoll inszenierte Film. Kommissar Zufall ist sehr präsent. Dass Assistentin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter), die diesmal verhältnismäßig wenig Kamerazeit zugestanden bekommt, einen zu Beginn abgestürzten Drachenflieger aus einem Praktikum bei der Drogenfahndung kennt – geschenkt. Auch dass Boerne auf einem Foto seine alte Grundschullehrerin Zita Keller (Christel Peters, Geschlossene Akten) entdeckt, die natürlich auch mit dem Fall zu tun hat – akzeptiert. Aber dass "Vaddern" Thiel dann auch noch mit einem Verdächtigen befreundet ist und diesen im Taxi herumgefahren hat, ist dann doch zu viel des Guten. Gibt es in Münster denn nur drei Taxen?

Nimmt man es mit der Realitätsnähe nicht so genau, bleibt dennoch ein unterhaltsamer Krimi, bei dem Fans des beliebten Duos voll auf ihre Kosten kommen. Die Dialoge sitzen und die Gags werden vom bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzten Cast nicht überstrapaziert. Das ewig Böse zählt unterm Strich zu den frühen und damit eindeutig besseren Fällen aus Münster.

Bewertung: 7/10

Schwarzes Herz

Folge: 621 | 22. Januar 2006 | Sender: NDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: NDR/Marion von der Mehden

So war der Tatort:

Trostlos – und das vor allem für Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) selbst.

Vom tragischen Verlust ihres Lebensgefährten Tobias Endres (Hannes Jaenicke) im Finale des starken Vorgängers Atemnot noch immer schwer angeschlagen, stolpert die LKA-Kommissarin entgegen jeder Vernunft unter Medikamenteneinfluss durch die Ermittlungen und bewegt sich während der Befragungen einmal mehr am Rande der Legalität, ohrfeigt im Streit sogar ihren Kollegen Markus Dunker (Tilo Nest, Tote Männer).

Schwarzes Herz folgt dem bekannten Muster der niedersächsischen Tatort-Folgen: Schauplatz ist ein Provinznest, in dem jeder jeden kennt, diesmal im Landkreis Stade, wo man Lindholm mit dem selbstbewussten Dunker einen mäßig sympathischen Dorfpolizisten zur Seite stellt. Der kann zwar nicht mit der smarten Kommissarin aus der Großstadt mithalten, bietet ihr aber trotzdem ordentlich Paroli. 

Gegenstand der gemeinsamen Ermittlung ist das Verschwinden von Simone Schatz, bei dem alles auf einen Mord hindeutet. Auch ein Tatverdächtiger ist für Lindholm schnell gefunden: ihr Ehemann Holger Schatz (Peter Kurth, von 2011 bis 2015 als Kommissar Seidel im Tatort aus Frankfurt zu sehen), ein Landwirt mit großem Schweinestall. In dessen Auto finden sich nicht nur Blutspuren seiner Frau – auch eine mögliche Tatwaffe ist aus seinem Waffenschrank verschwunden. 

Lindholm nimmt den aufbrausenden Bauern in Untersuchungshaft, befragt seinen besten Freund Benno Rhode (Werner Wölbern, übernimmt 2018 die Rolle als Staatsanwalt Bachmann im Tatort aus Frankfurt) und dessen Frau Eva (Sandra Nedeleff, Du gehörst mir) als Zeugen. Auch Tierarzt Kehl (Thorsten Merten, ab 2013 als Kripochef Kurt Stich im Tatort aus Weimar zu sehen) gerät ins Visier der Ermittlerin. Als eine weitere Leiche gefunden wird, müssen Lindholm und Dunker sich fragen, ob sie es hier mit einem Serienmörder zu tun haben.

Den 621. Tatort inszeniert – wie auch schon Atemnot oder den Lindholm-Erstling Lastrumer Mischung – erneut Thomas Jauch (Tanzmariechen). Und es gibt weitere Parallelen: Gerade im Hinblick auf das Privatleben der LKA-Ermittlerin sind die beiden Folgen inhaltlich lose miteinander verknüpft, Kamera und Schnitt sind ruhig, die Musik dick aufgetragen. 

Gleiches gilt für die Dialoge: Tatort-Debütant Fabian Thaesler liefert das Drehbuch für einen Krimi mit klassischer Whodunit-Erzählstruktur, dessen mit Abstand größte Schwäche in der oft unnatürlich wirkenden und deshalb holprigen Gesprächsführung liegt. 

In Bezug auf Lindholm und ihre psychische Verfassung machen die Filmemacher in diesem Tatort aber vieles richtig. Ins-Nichts-Starren und Momente, in denen die Kommissarin gedanklich völlig abwesend zu sein scheint, die leeren Tablettenschachteln, die sie vor den Augen des Kollegen im Handschuhfach zu verstecken versucht: Es sind die kleinen Details, die verraten, wie schlecht es wirklich um die Kommissarin steht.

Schauspielerisch punkten neben Maria Furtwänglers Darstellung der strauchelnden Lindholm vor allem Peter Kurth und Werner Wölbern. Mit Schatz und Rhode spielen beide Figuren, bei denen nie wirklich klar ist, woran man bei ihnen ist: unwissend und bemüht hilfsbereit in einem Moment, merkwürdig nervös und hochverdächtig im nächsten.

Wären da nur nicht die stets aufgesetzt wirkenden Szenen zwischen Lindholms überbesorgtem Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) und ihrer vergleichsweise entspannten Mutter Annemarie (Kathrin Ackermann), die gemeinsam den Geburtstag der Kommissarin vorbereiten: Sie tragen wenig bis nichts zur Geschichte bei und sind eines der besten Beispiele für die poetisch angehauchten, hölzernen Dialoge.


ANNEMARIE LINDHOLM:
Trauern heißt über dünnes Eis gehen. Man verlässt das Ufer, bricht ein, versinkt - wird auch ein bisschen selber sterben. Man muss bereit sein, loszulassen, um an der anderen Seite anzukommen.

MARTIN FELSER:
Aber wer soll ihr denn helfen, wenn sie da draußen nicht mehr weiter weiß?


Ab dem Moment, in dem die Auflösung des Falls klar ist, steuert der Krimi eigentlich geradewegs auf ein dramatisches Finale zu – bis in der entscheidenden Einstellung einfach weggeschnitten wird. Als Zuschauerin fühlt man sich um eine Erklärung betrogen. Stattdessen folgt zum Abschluss wieder eine kitschige Szene mit Lindholms Mitbewohner und Mutter, ein bisschen heile Welt zum Abschluss. Irgendwie völlig fehl am Platz.

Grundsätzlich wäre in Schwarzes Herz weniger mehr gewesen – einzig das schwächelnde Finale bildet hier die Ausnahme. Trotzdem ist der achte Fall für Charlotte Lindholm, in dem die sonst so beherrschte Hauptkommissarin sichtlich mit sich zu kämpfen hat, insgesamt ein gelungener Krimi, bei dem man als Zuschauerin lange rätseln kann, wer wohl für die beiden Morde verantwortlich ist.

Bewertung: 6/10

Blutdiamanten

Folge: 620 | 15. Januar 2006 | Sender: BR | Regie: Martin Eigler
Bild: WDR/T. Ehling

So war der Tatort:


Belgisch. 

Blutdiamanten spielt nämlich keineswegs – wenngleich es der Krimititel nahelegen mag – in Afrika, auf jenem Kontinent also, in dem die im 620. Tatort ausführlich thematisierten Edelsteine abgebaut werden. Sondern rund 200 Kilometer entfernt von Köln: in der belgischen Großstadt Antwerpen

Die Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär), die zum 33. Mal Seite an Seite ermitteln, entschließen sich gegen Mitte des Krimis zu einem spontanen Autotrip, bei dem sie nicht nur die langsam auskühlende Spur des skrupellosen Edelsteinhändlers Karl de Mestre (Andreas Windhuis, Kassensturz) verfolgen, sondern vor Ort auch zum zweiten Mal auf eine belgische Kollegin treffen: die toughe Julia Ruiter (Andrea Croonenberghs), die zuvor der Domstadt eine Stippvisite abgestattet hatte. 

Unterstützung haben die Kölner Hauptkommissare bei ihrem Ausflug ins Nachbarland auch bitter nötig: Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) bleibt in Deutschland und leidet einmal mehr unter Liebeskummer, an dem Ballauf und Schenk nicht ganz unschuldig sind, weil sie ihre leiderprobte Assistentin zur nächtlichen Videosichtung im Präsidium verdonnern, statt sie in den wohlverdienten Feierabend mit ihrem vergeblich wartenden Lover Tom zu entlassen. 

Die einleitenden, furchtbar konstruierten Taschentuchszenen (und die spätere Versöhnung an der Wurstbraterei) mit der überarbeiteten Franziska, bei denen sämtliche Parteien zu dick auftragen, sind das größte Ärgernis in einem Krimi, in dem ansonsten weitaus wichtigere Probleme thematisiert werden als Überstunden auf dem Präsidium – und dem die internationalen Verstrickungen sehr gut zu Gesicht stehen.

Wenn im Tatort grenzübergreifend ermittelt wird - man denke an die Bremer Folge Der illegale Tod, Das goldene Band aus Hannover oder Die chinesische Prinzessin aus Münster – kommt am Ende eher selten wirklich Gutes dabei heraus: Meist enden die Ermittlungen in den ewig gleichen Scharmützeln mit dem BKA, das natürlich alles besser weiß als die lokal ansässigen Kommissare und diese daher in schöner Regelmäßigkeit auszubremsen versucht (vergeblich, versteht sich). 

Dass der Kölner Tatort es besser kann, bewies er bereits 1998 mit dem vielgelobten Ausflug nach Manila, und auch in Blutdiamanten wird die politisch angehauchte Geschichte gekonnt als klassischer Whodunit-Krimi verpackt, bei dem die Auftaktleiche nur als Aufhänger für die größere Sache dient. 

Die Drehbuchautoren Sönke Lars Neuwöhner und Sven Poser, die bereits gemeinsam das Skript zum Kölner Tatort Schützlinge konzipierten, lassen das BKA komplett außen vor und machen die Sache zur Privatangelegenheit: Ruiter begibt sich auf eigene Faust in die Domstadt, Ballauf und Schenk spontan nach Antwerpen, wo Regisseur Martin Eigler (Blutgeld) nach dem furiosen Auftakt auf Karl de Mestres Firmenfeier zum zweiten Mal eine knackige Actionsequenz inszeniert

Da neben Diamantenhändlern und Profikillern zudem einige bis in die Haarspitzen motivierte Kölner Aktivisten mitmischen, fällt die Auflösung der Täterfrage durchaus knifflig aus – vorausgesetzt, der Zuschauer hat von dem ungeschriebenen Gesetz, dass im Tatort meist der prominenteste Nebendarsteller den Mörder mimt, noch nie gehört.

Bewertung: 7/10