Das Böse

Folge: 552 | 21. Dezember 2003 | Sender: HR | Regie: Nikolaus Stein von Kamienski
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Ausschweifend – und das gleich in doppelter Hinsicht.

Da ist zum einen der in jeder Hinsicht über die Stränge schlagende Bankier Petzold (Ulrich Tukur, Das Dorf), das personifizierte und titelgebende Böse, dessen ausschweifende Lebensweise jede mittelschwere Midlife Crisis in den Schatten stellt und um den sich in Das Böse alles rankt. 

Das charismatische Enfant Terrible, das in seinem Umfeld eine stattliche Anzahl Leichen anhäuft und von den Frankfurter Hauptkommissaren Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) bei deren drittem gemeinsamen Einsatz trotzdem nie in Untersuchungshaft genommen wird, macht nicht nur Sänger schöne Augen, sondern nötigt auch drogensüchtige Prostituierte zum Analverkehr, verzweifelte Geschäftspartnerinnen zum Entkleiden auf dem Beifahrersitz und Busfahrer zu Vollbremsungen, weil er mit seinem silbernen Cabrio sorglos bei Rot über die Ampel brettert. 

Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein (Pauline), der auch für die Frankfurter Vorgänger Oskar und Frauenmorde verantwortlich zeichnet, verzichtet auf das gewohnte Whodunit-Prinzip und macht von Beginn an keinen Hehl daraus, dass mit dem späteren Tatort-Kommissar Ulrich Tukur mal wieder der prominenteste Nebendarsteller den Mörder mimt. 

Dass Sänger und Dellwo den umtriebigen Hauptverdächtigen nicht schon nach dem ersten Mord zur Gegenüberstellung mit der einzigen Zeugin bitten, ist hier einzig der Dramaturgie geschuldet und will nicht wirklich einleuchten, schließlich mangelt es trotz zahlreicher Indizien und vieler merkwürdiger Zufälle an den nötigen Beweisen, um den gefährlichen Petzold hinter Gitter zu bringen.

Ausschweifend ist aber leider auch das Drehbuch, denn Niki Stein eröffnet im 552. Tatort gleich ein halbes Dutzend Nebenkriegsschauplätze: Die Liaison zwischen Dellwo und der namenlosen Gerichtsmedizinerin (Iris Böhm), Sängers Ärger mit dem kranken Vater (Hans Weicker), das große Tanzturnier, bei dem auch Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) und Chef Werner "Rudi" Fromm (Peter Lerchbaumer) die Daumen drücken, Fromms peinliche, spontane Liebeserklärung an Sänger, Dellwos verpatzter Hausverkauf, der Auszug aus dem Polizeipräsidium: ein bisschen viel für neunzig Tatort-Minuten. 

Eigentlich bringen nur die ständigen Querelen mit Sängers störrischem Vater die Geschichte wirklich voran – das dann aber so richtig, denn sie bilden den Nährboden für einen dramatischen Showdown, der den Zuschauer zwar nicht ganz unerwartet, aber mit voller Wucht in der Magengrube trifft. Der Grat zwischen unfreiwilliger Komik und tragischem Schlussakkord ist hier verdammt schmal, zumal offensichtlich populäre Hollywoodvorbilder wie David Finchers Sieben, an den schon in Frauenmorde Erinnerungen wach wurden, Pate für den Schlussakkord standen. Hätten die Filmemacher sich stärker auf den besten Handlungsstrang konzentriert – aus Das Böse hätte ein echter Klassiker werden können. 

Neben Andrea Sawatzki, die sich diesmal wackere achtzig Minuten ohne verdrückte Träne hält, und dem einmal mehr blendend aufgelegten Ulrich Tukur glänzt nämlich auch Barbara Philipp als herrlich abgefuckte Prostituierte Nina Grote. Da kommt es nicht von ungefähr, dass Tukur und Philipp sich knapp sieben Jahre später in Wie einst Lilly als neues Ermittlergespann in Wiesbaden erneut vor der Kamera begegnen.

Bewertung: 7/10

Sag nichts

Folge: 551 | 14. Dezember 2003 | Sender: WDR | Regie: Lars Kraume
Bild: SWR/WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:

Rauchfrei. Zumindest fast. 

Denn beim vierten gemeinsamen Einsatz von Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) verzichtet Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann) erstmalig darauf, die Räume des Polizeipräsidiums vollzuqualmen: Klemm gibt vor, das Rauchen aufgeben. Dumm nur, dass die Juristin ihr Vorhaben nur wenige Tage durchhält, auf der Damentoilette den Feuermelder auslöst und sich zu allem Überfluss auch noch von Naturskeptiker Thiel bei der heimlichen Zwischendurch-Fluppe erwischen lässt.

Es sind Szenen wie diese, die den Tatort aus Münster einmal mehr zu einem Krimi der humorvollsten Sorte machen und vor allem in der ersten Hälfte reichlich Lacher generieren. Die wohl köstlichste Sequenz in Sag nichts ist der schon bald legendäre "Einbruch" von Boerne in die Wohnung seines eigenen Mieters: Dem Forensiker ist beim Kochen die Butter ausgegangen, also bedient er sich heimlich an Thiels Kühlschrank. 

Zu sehen ist der Diebstahl allerdings nicht: Leider verzichtet das Autorentrio um Jan Hinter (Platt gemacht), Hans-Christian Laaber und Wolfgang Panzer (Direkt ins Herz) darauf, die nächtliche Stippvisite ins Drehbuch zu schreiben und Boerne auf Zehenspitzen durch Thiels Küche schleichen zu lassen. Stattdessen gesteht der Vermieter seinem Mieter den Besuch, der rein juristisch nur nach Vorankündigung erlaubt ist, wie selbstverständlich. Spaß macht das natürlich trotzdem.

Damit aber nicht genug: Boerne, der sich wie immer einige Spitzen von Thiel gefallen lassen muss ("Ich kenne niemanden, der sensibler wäre als der Herr Professor!"), mit Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) diesmal aber überraschend human umgeht, interpretiert die Gesetze gleich ein zweites Mal eigenwillig und verschafft sich unbefugt Zugang zum Wohnhaus des tatverdächtigen Kaninchenzüchters Wolfgang Baermann (Otto Mellies, Scherbenhaufen). 

Dass die Spur erst im letzten Krimiviertel zu dem überaus argwöhnischen Rentner, dem es gar nicht in den Kram passt, dass Thiel und Boerne seiner psychisch kranken Tochter Roswitha (Julika Jenkins, Das erste Opfer) auf den Zahl fühlen, führt, will indes nicht ganz einleuchten: Wer gleich zwei Ehefrauen verschleißt und seine Tochter am liebsten wegsperren würde, der muss doch schließlich was auf dem Kerbholz haben. Aber was? 

Bei der Suche nach der Auflösung ist jeder halbwegs krimierprobte Zuschauer den Ermittlern aus Münster meilenweit voraus – was natürlich auch daran liegt, dass die beiden Streithähne im Gegensatz zum Publikum nicht wissen können, dass der 551. Tatort den Krimititel Sag nichts trägt. Regisseur Lars Kraume (Der Tote im Nachtzug) hält die Täterfrage bis zum Schluss offen, vermag mit der Schlusspointe aber kaum zu überraschen. So ordnet sich der unterhaltsame, aber nicht ganz von Schwächen freie Fall Sag nichts gerade noch im oberen Drittel der Folgen aus Westfalen ein.

Bewertung: 7/10

"Ja natürlich, ich bin doch kein Butterdieb!" 

Väter

Folge: 549 | 30. November 2003 | Sender: NDR | Regie: Thomas Freundner
Bild: NDR/Manju Sawhney

So war der Tatort:


Folgerichtig. 

Denn was läge näher, als für die Hauptrolle des Hauptkommissars Klaus Borowski im ersten Kieler Tatort der Reihe nach dem Abschied von Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) einen gebürtigen Kieler zu verpflichten? 

Die Wahl des NDR fiel auf Axel Milberg, 1956 in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt geboren, und sie erweist sich als goldrichtig: Die Rolle des unterkühlten, ständig schlecht gelaunten Ermittlers ist Nordlicht Milberg, der zuvor bereits in den Tatorten Klassen-Kampf, Streng geheimer Auftrag und Der Trippler als Nebendarsteller zu sehen war, wie auf den Leib geschrieben.

Borowski nölt bei seinem ersten Auftritt so ziemlich an allem rum – an den Therapiestunden bei seiner zukünftig dauerhaften Weggefährtin, der Polizeipsychologin Frieda Jung (Maren Eggert), an der Radiomusik seines aus Aserbaidschan stammenden Kollegen Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh), der ebenfalls auf Jahre fest zum Cast an der Ostseeküste zählt, und an der Informationspolitik im Präsidium. 

Nur an einer Person hat er nichts auszusetzen: an seiner Tochter Carla (Neelam Schlemminger, Das Ende des Schweigens). Die bringt in Väter schon bei der ersten Begegnung am Bahnhof nicht nur ihren verbiesterten Vater zum Auftauen, sondern auch gehörig Leben in den 549. Tatort: Fröhlich dreht die Elfjährige im Radio die Hook des Obie-Trice-Songs Adrenaline Rush auf, bei dem gefühlt jedes dritte Wort "motherfucker" lautet, und blättert sich in Seelenruhe durch Leichenfotos in den Ermittlungsakten auf Borowskis Schreibtisch.

Dieser Drehbuchkniff von Autor Orkun Ertener (Märchenwald) sorgt nicht nur für den einen oder anderen Lacher, sondern bietet zugleich Gelegenheit, den Hauptkommissar als vielschichtigen Charakter einzuführen: Borowski wandelt im Job stets auf einem schmalen Grat, setzt sich über Dienstvorschriften hinweg, pfeift auf Sympathiepunkte bei den Kollegen und fesselt die ungeliebte Kieler Lokalgröße Walter Scharndorf (Douglas Welbat, Finale am Rothenbaum) nackt auf dem Dach eines Bordells. Ein ziemlicher Kotzbrocken auf der, aber auch ein liebevoller Vater, der seine Tochter kurzerhand bei einem ehemaligen Weggefährten einquartiert und sich am Telefon mit seiner Ex-Frau herumschlagen muss, auf der anderen Seite. 

Zugleich schlägt dieses Vater-Tochter-Konstrukt die Brücke zum eigentlichen Mordfall, in dessen Mittelpunkt der zurückgekehrte Seemann Lars Betz (Henning Peker, Herzversagen) nicht nur um den gemeinsamen Sohn mit Ex-Frau Elke Betz (Gunda Ebert, Todesangst) kämpft, sondern zugleich seine Festanstellung zu verlieren droht. Regisseur Thomas Freundner (Tote Erde) gelingt es damit, beim Zuschauer gezielt Sympathien für den verzweifelten Heimkehrer, der sich mit einer waghalsigen Flucht vor der Polizei schwer in die Bredouille bringt, zu wecken. 

Die Auflösung ist dadurch leider ziemlich vorhersehbar, was hier aber nicht allzu schwer ins Gewicht fällt: Väter ist ein typischer Erstling, in der Borowski als Kommissar ausführlich vorgestellt und zudem das Verhältnis zu seiner Psychologin Jung ausgelotet wird. Das macht Lust auf mehr – geht aber naturgemäß auf Kosten der Spannung.

Bewertung: 7/10

Sonne und Sturm

Folge: 545 | 2. November 2003 | Sender: NDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Ostfriesisch.

Ihr dritter Tatort-Einsatz führt die niedersächsische LKA-Ermittlerin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) nämlich direkt an die Nordsee – genauer gesagt nach Nordersiel, ein ebenso gemütliches wie fiktives Fischerdörfchen, das in der Realität unter dem Namen Greetsiel auf der Landkarte zu finden ist und jährlich Tausende von Touristen an den malerischen Hafen und in die vielen kleinen Fischrestaurants an der Küste lockt

Warum der NDR das Örtchen für Sonne und Sturm umtauft, erschließt sich nicht wirklich – schließlich schwanken im 545. Tatort unübersehbar vor Anker liegende Fischkutter mit der leuchtenden Aufschrift GREETSIEL durchs Bild, die die Umbenennung früh ad absurdum führen. Immerhin: Die Skizzierung des von Tuscheln und Tourismus geprägten Dorfmilieus gelingt Drehbuchautor Fred Breinersdorfer (Ein neues Leben) deutlich authentischer als seinen Autorenkollegen in den wenig glaubwürdigen Lindholm-Vorgängern Lastrumer Mischung und Hexentanz

Das herrlich norddeutsche Lokalkolorit ist ein weiterer Pluspunkt: Dem Nordsieler Kneipenwirt, bei dem die blonde Hauptkommissarin abends ihr kühles Blondes ordert, sind sogar zwei Dialogzeilen in unfallfreiem Platt vergönnt, und einen kurzen Abstecher zum berühmten rot-gelben Pilsumer Leuchtturm gönnt der NDR dem Publikum auch. 

Alle wichtigen Nebenfiguren schnacken hingegen Hochdeutsch aus dem Bilderbuch – das ist ein wenig schade, denn insbesondere Touribootskapitän Roland Jellinek (Jochen Nickel, Der Teufel) und seiner unglücklich verheirateten Gattin Nynke (Eva Kryll, Erfroren) hätte ein ostfriesischer Zungenschlag bestens zu Gesicht gestanden.
 

Die malerischen Fischerdorfkulissen und die plattdeutschen Einschläge sind aber leider auch schon die einzigen Stärken des von Thomas Jauch (Mein Revier) inszenierten dritten Lindholm-Tatorts, bei dem sich einfach keine Spannung einstellen will. 

Warum Jellineks tödlich vergifteter Geschäftspartner Wolfgang Surdrup (Rainer Piwek, Todesschütze) lange Qualen leidet und erst nach einer gefühlten Ewigkeit das Zeitliche segnet, leuchtet nicht ein: Hier wäre eine klassische Auftaktleiche eindeutig die bessere Wahl gewesen, weil sie dem Zuschauer einige nervtötende Hustenanfälle und eine furchtbar kitschige Zeitlupenszene auf dem Krankenhausflur erspart hätte. 

Größte Schwäche des Tatorts sind aber die gekünstelten, furchtbar aufgesetzten Dialoge, bei denen Lindholm, Martin Felser (Ingo Naujoks) & Co. oft wirken, als wären sie unfreiwillige Hauptdarsteller auf den Theaterbrettern einer Gesamtschule: Emotionsfreie Floskelgefechte, überflüssige Zwischenfazits und abgegriffene Krimiphrasen – exemplarisch dafür sei der letzte Dialog zwischen Lindholm und dem tatverdächtigen Christian Praetorius (Harald Schrott, Vergeltung) genannt – reihen sich in unerträglicher Penetranz aneinander und machen Sonne und Sturm vor allem im letzten Filmdrittel zur reinen Tortur. 

Damit ist der Tatort, in dem Felsers zarte Annäherungsversuche an seine Mitbewohnerin erneut in die Hose gehen, beim Blick auf die Gesamtreihe einer der schwächsten Beiträge aus Niedersachsen – und nach der soliden Lastrumer Mischung und dem durchwachsenen Hexentanz der erste echte Fehlschlag.

Bewertung: 3/10

3 x schwarzer Kater

Folge: 543 | 19. Oktober 2003 | Sender: WDR | Regie: Buddy Giovinazzo
Bild: NDR/WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:

Rollstuhlgerecht.

Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) ist bei seinem dritten gemeinsamen Fall mit Hauptkommissar und St. Pauli-Fan Frank Thiel (Axel Prahl) nämlich zum ersten Mal bis über beide Ohren verliebt: in eine Rollstuhlfahrerin. 

Dass das naturgemäß ein wenig reservierter ausfällt als bei manch anderem frisch Verliebten, versteht sich von selbst: Umständlich und steif bittet er Heimleiterin Katharina Stoll (großartig: Mord mit Aussicht-Aushängeschild Caroline Peters in ihrem bisher einzigen Tatort-Auftritt) zum Dinner im piekfeinen Restaurant, lässt sich beim Joggen von der Schwerbehinderten abhängen und blickt verstohlen zur Seite, wenn Stoll über ihre sexuellen Wünsche plaudert. Und doch zeigt sich der Professor in vielen Szenen überraschend einfühlsam. 

Er kann also auch anders, der oft austeilende Forensiker und talentierte Hobby-Pianist, der auch in 3 x schwarzer Kater wieder jede sich bietende Gelegenheit nutzt, seine kleinwüchsige Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) mit ihrer buchstäblich überschaubaren Körpergröße aufzuziehen. 

Dass es Boerne darüber hinaus mit dem Gesetz nicht allzu genau nimmt, zeigt sich neben der köstlichen Briefkastenszene, die den Mediziner seine sündhaft teure Herrenarmbanduhr und einen verlegenen Anruf bei Thiel kostet, vor allem beim Besuch seines amerikanischen Kollegen Dr. King (Max von Pufendorf, Unter Druck), für den ein "Tütchen" offenbar Grundvoraussetzung für produktive Laborarbeit ist.


BOERNE: 
Thiel, können Sie mir nicht 'ne mittelgroße Menge Marihuana beschaffen, hm? Aus der Asservatenkammer? Oder... ja, vielleicht reden Sie mal mit Ihrem Vater?


Der radebrechende Kollege, der in 3 x schwarzer Kater permanent zwischen deutschen und englischen Sätzen hin- und herswitcht und Boerne kumpelhaft "Charly" ruft, ist ansonsten aber einer der weniger guten Einfälle des eingespielten Autorenduos Stefan Cantz und Jan Hinter, die auch die Drehbücher zu vielen weiteren amüsanten Münster-Folgen wie Hinkebein, Der doppelte Lott oder die herausragende Auftaktfolge Der dunkle Fleck schreiben. 

Sein plötzliches Aufschlagen wirkt sehr konstruiert, wenngleich es letztlich King ist, der den entscheidenden Hinweis auf den Täter liefert. Dass dieser nicht aus dem Wohnheim für Menschen mit Behinderung stammt, überrascht nicht – ein schwerbehinderter Mörder wäre wohl selbst für einen Tatort aus Münster zuviel des Guten gewesen. Dennoch weiß die Auflösung zu überzeugen – und bietet Regisseur Buddy Giovinazzo (Platt gemacht) darüber hinaus Gelegenheit, einen spannenden Showdown auf den Bahngleisen zu inszenieren. 

Da ist es zu verschmerzen, dass im 543. Tatort mal wieder der/die prominenteste Nebendarsteller/in für den Mord verantwortlich zeichnet.

Bewertung: 7/10

Wenn Frauen Austern essen

Folge: 542 | 12. Oktober 2003 | Sender: BR | Regie: Klaus Emmerich
Bild: Bavaria Film GmbH/BR/klick/Erika Hauri
So war der Tatort:

Wie ein neunzigminütiger Mädelsabend: feuchtfröhlich, sehr albern und ohne den ganz großen Tiefgang.

Doch der 35. Fall der Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) ist auch eine satirisch angehauchte Hommage an Agatha-Christie-Romane und Krimiklassiker wie François Ozons 8 Frauen, der ein Jahr zuvor im Kino lief – und zugleich eine der weiblichsten Tatort-Folgen aller Zeiten.

Denn während die Münchner Hauptkommissare, die wie gewohnt von Kriminaloberkommissar Carlo Menzinger (Michael Fitz) unterstützt werden, zwar dem vermeintlich starken Geschlecht angehören und mit Regisseur Klaus Emmerich (Aida) und Drehbuchautor Peter Probst (Der Traum von der Au) zwei männliche Filmemacher am Ruder sitzen, liest sich die Besetzung auffallend feminin: Der Bayerische Rundfunk hat sämtliche Nebenfiguren und Tatverdächtigen in diesem Tatort ausschließlich mit Frauen besetzt. Die kommen einleitend zusammen und eine kommt dabei ums Leben. Wenn Frauen Austern essen.

Die Frauen eint aber nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch ihr Metier: Die einflussreiche Literatur-Agentin Ira Kusmansky (Doris Schade, Das Glockenbachgeheimnis) hat ein halbes Dutzend Schriftstellerinnen zum festlichen Dinner versammelt und stellt ihnen einen lukrativen Millionenauftrag in Aussicht.

Die erfolgreiche Krimi-Expertin Roswitha Reimers (Elisabeth Rath), die selbstbewusste Heile-Welt-Autorin Ingrid Sanzara (Gilla Cremer, Mietsache), die erfahrene Lektorin Barbara Gerhard (Margit Rogall), die frustrierte Science-Fiction-Schreiberin Laura Lord (Sandra Borgmann, Fette Krieger), die provokante Sex-And-Crime-Autorin Hermine Horkens (Antje Widdra, Nie wieder frei sein) und die extrovertierte Kitsch-Verfasserin Stefanie Kracht (Schirin Sanaiha) erscheinen ebenso zum Dinner wie die gefragte Talkshow-Moderatorin Susanne Trier (Ilse Biberti, Haie vor Helgoland) und die schüchterne Frauenrechtlerin Anna Stahlberg-Zeulig (Barbara Melzl).

Letztere wird vergiftet und teilt damit womöglich das Schicksal einer fiktiven Romanfigur aus Reimers' Feder. Hat die Täterin die Tat angekündigt?


LEITMAYR:
Ein weiblicher Serienkiller, der seine Morde vorher veröffentlicht? Das klingt a bissl arg nach Agatha Christie, oder?


BATIC:
Heutzutage musst du originell sein, sonst fällst du nicht mal mehr als Serienkiller auf.


Die anstrengenden Anfangsminuten stellen die Geduld des Publikums bereits auf die Probe, denn sie sind so überladen wie die üppige Austernplatte auf dem Esstisch – eine echte Einleitung gibt es in diesem Krimi nicht und die Figuren werden nicht etwa vor der turbulenten Zusammenkunft eingeführt, sondern erst im weiteren Verlauf des Films. So ist der Zuschauer gleich mittendrin statt nur dabei: Am Tisch wird minutenlang drauf los geplappert, munter über Männer gelästert und fleißig gegen Konkurrentinnen gestichelt.

Schon zu diesem frühen Zeitpunkt offenbart die 542. Tatort-Folge ein ärgerliches Dilemma: Sämtliche Debatten – sei es nun die über Feminismus, die über Sexismus oder die über Rassismus – lassen die Substanz vermissen und müssen für laue Ironie oder bemühte Libido-Sprüche herhalten. Das wird keinem der Themen gerecht und gipfelt sogar in der Verharmlosung von sexueller Gewalt gegen Männer: Eine der Damen kneift Carlo Menzinger in den Po – und der erntet dafür nicht etwa Beistand, sondern Häme und Spott von seinen Kollegen. Man stelle sich vor, das wäre einer Tatort-Kommissarin passiert.

Solche Szenen sind schon 2003 nicht zeitgemäß, aber auch sehr schlecht gealtert – und so überzeugt Wenn Frauen Austern essen unterm Strich eher als solider Whodunit denn als Auseinandersetzung mit der Gefühlswelt klammer Schriftstellerinnen und den Facetten der Frauenliteratur (sofern es die überhaupt gibt). Batic und Leitmayr nehmen den Zuschauer an die Hand, stellen sich den quirlig-überdrehten, psychisch labilen oder eiskalt berechnenden Frauen mit  ihrer Souveränität entgegen und knöpfen sich eine nach der anderen vor – egal ob auf der Judomatte, im Bordell oder beim Kindergeburtstag.

Die Spannungsmomente sind dabei aber relativ rar gesät und auch dramaturgisch bleibt der Krimi konventionell: Nach einer Dreiviertelstunde finden die Kommissare die obligatorische zweite Tatort-Leiche, eine dritte gilt es zu verhindern. Puzzlestück für Puzzlestück setzen sie zusammen, wühlen sich nach Feierabend durch kitschige Romane und versammeln zum großen Finale alle tatverdächtigen Frauen (und damit den tollen Cast) ein weiteres Mal am Esstisch.

Agatha Christie wäre stolz auf die beiden gewesen.


HORKENS (ZU LEITMAYR):
Was soll denn das hier werden? Hercule Poirot für Arme?


KRACHT (IN DIE RUNDE):
Dann wäre der andere Miss Marple, oder?


Bewertung: 5/10

Das Phantom

Folge: 535 | 9. Juni 2003 | Sender: WDR | Regie: Kaspar Heidelbach
Bild: WDR/Uwe Stratmann
So war der Tatort:

Belastend.

Und zwar in erster Linie für den Kölner Hauptkommissar Freddy Schenk (Dietmar Bär), der bei seinem 25. Einsatz seinen Augen kaum traut: Bei einem Raubüberfall auf eine Tankstelle erschießt der Täter einen Kunden, der die Polizei alarmieren will – und die Bilder der Überwachungskamera zeigen zu Schenks Erstaunen das Gesicht von Ronald "Ronny" Lochte (Roman Knizka, Kälter als der Tod), den er vor Jahren als Bankräuber überführt hat und der seine Haftstrafe in der JVA noch absitzt. Ein perfekteres Alibi gibt es kaum.

Für Schenk und seinen Kollegen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) ergeben sich damit zwei Möglichkeiten: Entweder ist Lochte, der den vermeintlichen Bankraub bisher nicht gestanden hat, aus dem Gefängnis ausgebrochen und direkt rückfällig geworden – oder aber er hat einen Doppelgänger, der womöglich auch das Verbrechen begangen hat, für das ihn Schenk zu Unrecht hinter schwedische Gardinen gebracht hat.

Die Antwort ist schon nach vier Minuten gefunden: Lochte sitzt putzmunter im Gefängnis und ist sogar bereit, den Bankraub zu gestehen, weil ihm dadurch die Entlassung in den offenen Vollzug winkt. Gegenüber dem Kölner Kommissar, der ihm vielleicht ohne böse Absicht die Tat eines Anderen zur Last gelegt hat, hegt er keinen nennenswerten Groll.


SCHENK:
Gut sehen Sie aus. Viel Sport, hm?

LOCHTE:
Sie aber auch, Kommissar. Hausmannskost, wie?


Wer nun glaubt, die Ermittlungen im 535. Tatort würden sich auf den ominösen Doppelgänger konzentrieren (immerhin hat der ja einen Menschen erschossen), ist aber denkbar schief gewickelt: Der unbekannte Tankstellenräuber interessiert die Kommissare nicht die Bohne, weil Lochte kurze Zeit später aus der JVA ausbricht und bei seiner Flucht eine stattliche Anzahl an Leichen auftürmt. Wer Lochtes Doppelgänger ist, klärt sich später durch Zufall – es ist eines der größten Mankos in einem ansonsten überzeugenden Tatort, in dem die Filmemacher die Spannungskurve über die gesamte Spieldauer nie in den Keller sinken lassen.

Drehbuchautor Norbert Ehry (Die Neue) hat sich gegen das gewohnte Whodunit-Konstrukt entschieden und stattdessen eine schnörkellose Hetzjagd konzipiert, bei der die Kommissare bisweilen mit pfiffigen Tricks ihr Glück versuchen und Schenk noch weitere Tiefschläge wegstecken muss: Sein Handy und seinen Dienstwagen – einen schicken alten Ford Mustang – lässt er sich leichtfertig abluchsen, das erste Kölsch an der Wurstbraterei muss er nach einem Streit mit Ballauf allein trinken und daheim scheint ihn auch niemand zu vermissen, wenn er notgedrungen die Nacht unter freiem Himmel verbringt.

Für den Zuschauer sind die Sympathien bei der Suche nach Lochte klar verteilt: Der flüchtige Straftäter, von Roman Knizka charismatisch verkörpert, gibt sich gegenüber seiner Geliebten Verena Radek (Katharina Müller-Elmau, Die Neue) und seiner Tochter Annika (Nicole Mieth, Der doppelte Lott, später auch Playboy und Dschungelcamp) zwar aufopferungsvoll und herzlich, zögert aber keine Sekunde, unschuldige Menschen zu töten, um seine eigene Haut zu retten. Auch seine Ex-Freundin Elke Meerbusch (Barbara Philipp, ermittelt später als Magda Wächter im Tatort aus Wiesbaden) behandelt er zu grob, als dass wir dem Getriebenen bei der Flucht vor der Kripo heimlich die Daumen drücken würden.

Ein solches Konstrukt wäre für den Tatort ohnehin sehr ungewöhnlich; und so dürfen wir fast eineinhalb Stunden unter temporeich-routinierter Regie von Kaspar Heidelbach (Rückspiel) mitfiebern, ob es Ballauf und Schenk wohl gelingt, Lochte wiedereinzufangen und (noch) größeres Unheil zu verhindern. Rein ästhetisch hat Das Phantom aber stellenweise was von Vorabendprogramm: Ein bemühter Motorrad-Stunt am Bahndamm würde den Machern von Alarm für Cobra 11 allenfalls Gelächter abringen und auch der effekthascherische Soundtrack trifft bei Suspense-Momenten nicht immer den richtigen Ton.

Mitunter gilt das auch für die Kommissare, die in diesem Tatort eher selten einer Meinung sind. Im Beisein von Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) kriegen sie sich gar so sehr in die Haare, als hätte sich seit ihrer denkwürdigen ersten Begegnung in Willkommen in Köln nicht viel an ihrem Verhältnis geändert: Während Schenk moniert, dass Ballauf mit der undurchsichtigen Radek flirtet, zahlt der ewige Junggeselle dem in diesem Tatort so gebeutelten Familienvater Schenk mit gleicher Münze zurück.


BALLAUF:
Weißt du eigentlich, wie Alfred Schenk Vater geworden ist? Tja, weiß er auch nicht. Im Bio-Unterricht hat er immer gefehlt und – Hokuspokus – waren die Töchter da.

SCHENK:
Hör nicht auf ihn. Seit vier Jahren weint er nachts ins Kissen, in seinem schäbigen Hotel. Jetzt ist er sauer, weil sie sich lieber mit 'nem Knacki einlässt als mit ihm.


Bewertung: 7/10

Hexentanz

Folge: 529 | 13. April 2003 | Sender: NDR | Regie: René Heisig
Bild: NDR/Ines Gellrich
So war der Tatort:

Wie verhext. 

Hauptkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), die zum zweiten Mal für das Landeskriminalamt Niedersachsen im Einsatz ist und nach einer knappen Stunde wieder Unterstützung von ihrem treuen Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) erhält, wird nämlich auch in Hexentanz wieder in die tiefste norddeutsche Provinz abkommandiert. Und in dem namenlosen Dörfchen in der Nähe des Teufelsmoors ticken die Uhren noch anders: Wer glaubt, dass Hexenverfolgung und weiße Magie ins Mittelalter gehören, ist schief gewickelt. 

Das zumindest wollen Drehbuchautor Markus Stromiedel (Einmal täglich) und Regisseur René Heisig (Der schöne Schein), die einen klassischen Whodunit-Fall konstruieren und die Täterfrage bis zur letzten Filmminute offen halten, ihrem Publikum weismachen: Die unglaubwürdige Skizzierung der übertrieben engstirnigen Dorfbewohner, an der bereits Lindholms Erstling Lastrumer Mischung krankte, raubt auch Hexentanz einen Großteil seiner Authentizität. Wenn im 21. Jahrhundert in deutschen Vorgärten Pentagramme brennen und Hühnerknochen an Fäden von dürren Ästen baumeln, dann kann die Geschichte noch so clever angelegt und der Kreis der Verdächtigen noch so vielfältig sein: Es fällt einfach schwer, der Krimihandlung dauerhaft Glauben zu schenken. 

Die Suche nach dem Mörder von Werner Hellmann (Wolfgang Packhäuser, 3 x schwarzer Kater), der einen Bogen zum dreizehn Jahre zurückliegenden Mord an seiner Ehefrau schlägt, steht damit von Beginn an auf tönernen Füßen. Das ist umso ärgerlicher, weil der 529. Tatort ansonsten schwer zu durchschauen und nie wirklich auszurechnen ist: Tatverdächtige gibt es gleich ein Dutzend, und weil in der Mordnacht ein Häuserbrand – Hurra, das ganze Dorf ist da! – den ganzen Ort in helle Aufregung versetzt, hat auch keiner der Dorfbewohner ein wasserdichtes Alibi. 

Mit dem Trottelfrisur tragenden, in einen unfassbar hässlichen Pulli gesteckten Dieter Grote (Thomas Schmieder), seinem umtriebigen Vater (Karl Kranzkowski, Heimwärts) und dessen unsympathischer Gattin Henrike (Swetlana Schönfeld, später  in Todesstrafe und vielen weiteren Folgen als Eva Saalfelds Mutter Inge im Leipziger Tatort zu sehen) drängen sich gleich mehrere Verdächtige in den Vordergrund, um dann vorübergehend aus dem Blickfeld zu geraten. War es vielleicht doch die psychisch kranke, fleißig Vogelfutter knabbernde Erika Hinrichs (Monika Hansen), die man im Dorf glatt wegsperrt? Oder gar Kirsten Hellmann (Lisa Potthoff, Bittere Trauben), die Tochter der beiden Opfer, die von heute auf morgen wieder in der Gegend um das Teufelsmoor auftaucht? 

Charlotte Lindholm, die den Kollegen von der Dorfpolizei nach allen Regeln der Kunst vorführt, sich im Verhör aber von Tierarzt Grote denkwürdig unterbuttern lässt, sucht lange nach des Rätsels Lösung. Die gefällt, rettet den Hexentanz aber auch nicht mehr ins sehenswerte Mittelmaß.

Bewertung: 4/10

Schöner sterben

Folge: 528 | 30. März 2003 | Sender: SWR | Regie: Didi Danquart
Bild: SWR
So war der Tatort:


Damals sprintete im Trikot des Deutschen Reichs eine Frau durchs Berliner Olympiastadion, die nach der Idee der Filmemacher die Tante von Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) ist: Läuferin Emmy Albus verpatzte, sicher in Führung liegend, vor den Augen von Reichskanzler Adolf Hitler die letzte Übergabe des Staffelstabs. Das 4x100m-Rennen ging auf der Zielgeraden verloren.

Im Drehbuch von Daniel Martin Eckhart (Ein mörderisches Märchen) wird aus Emmy Albus kurzerhand Emma Odenthal (Gisela Trowe, Tödliche Freundschaft): Ohne Kontakt zu ihrer Nichte lebt die frühere Leichtathletin mittlerweile im Altersheim Grünwald, deren umtriebige Bewohnerin Marina Cortese (Ingrid van Bergen, Schlaflose Nächte) im Prolog des Krimis von einem Unbekannten niedergeschlagen wird und die Treppe hinunter in den Tod stürzt.

So begegnen sie sich in der Eingangshalle des Heims nach langer Zeit wieder, Emma Odenthal und Lena Odenthal, die auf den Fall angesetzt und wie gewohnt von ihrem Kollegen Mario Kopper (Andreas Hoppe) unterstützt wird. Das nächtliche Wiedersehen der verwandten Frauen ist frostig, das gute Verhältnis ging in die Brüche – dabei war Emma einst die wichtigste Bezugsperson im Leben der späteren Kripo-Beamtin.


ODENTHAL:
Emma war meine beste Freundin. Ich wollte nicht so sein wie mein Vater oder meine Mutter. Ich wusste, irgendwann werde ich genau sein wie Emma. Wild und frei, ich würde nie jemanden brauchen. Selbständig und stark, genau wie sie.

KOPPER:
Das hast du ja erreicht.


Wie so oft im Ludwigshafen-Tatort ist Lena Odenthal persönlich in den Fall involviert, und auch die Ausgangslage des Whodunits im Miss-Marple-Stil könnte klassischer kaum gestrickt sein: Im Mikrokosmos Altenheim, das neben dem Präsidium praktisch der einzige Schauplatz der 528. Tatort-Folge ist, kommt ein halbes Dutzend Verdächtiger als Täter infrage – und es liegt an Odenthal und Kopper, den Mörder mit Unterstützung von Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt) und Spurensicherungsleiter Peter Becker (Peter Espeloer) zu überführen.

Schon früh offenbart sich, dass der Weg zur richtigen Auflösung über den schüchternen und geistig zurückgebliebenen Hausmeister Willy Vogelsang (Bruno Cathomas, Ein Hauch von Hollywood) führt: Einleitend von Lenas zugeknöpfter Tante beim Abdecken der Leiche beobachtet, dann vom herrischen Heimleiter Karl Kranz (Rudolf Wessely, Passion) mit einem dünnen Alibi in Schutz genommen und später immer auffällig unauffällig in Hörweite, wenn Odenthal und Kopper im Garten des Heims Befragungen durchführen. Dieser Sonderling muss einfach eine Leiche im Keller haben.

Und doch ist Vogelsang auf den zweiten Blick ein so herzensguter, bemitleidenswerter und aufrechter Mensch, das er für krimierprobte Zuschauer schnell als Mörder ausscheidet – da stört es auch nicht, dass der angeblich so glühende Der Herr-der-Ringe-Fan die Elbenkönigin Galadriel als Elfenkönigin bezeichnet und mit dem Fotoapparat einem ziemlich eigenwilligen Hobby nachgeht. Vogelsangs Szenen sind die stärksten des Krimis, und das liegt vor allem am bravourösen Auftritt von Bruno Cathomas, der drei Jahre zuvor – ebenfalls unter Regie von Didi Danquart – bereits im Ludwigshafener Tatort Der schwarze Ritter zu sehen war und der von 2017 bis 2019 Staatsanwalt Fosco Cariddi im Frankfurter Tatort spielt.

Wer die männermordende Cortese auf dem Gewissen hat, klärt sich erwartungsgemäß erst in den Schlussminuten, und auch sonst ist Schöner sterben ein Krimi, nach dem man die Uhr stellen kann: Die obligatorische zweite Tatort-Leiche folgt – wie könnte es anders sein – nach exakt einer Stunde, eine Verfolgungsjagd durchs Treppenhaus steht ebenfalls im Skript und eine brenzlige Situation für Lena Odenthal, die bereits im grandiosen Kopper-Erstling Der kalte Tod auf dem Seziertisch eines Serienmörders landete, macht sich auf der Zielgeraden auch immer gut. Überzeichnete Selbstgespräche der Tatverdächtigen, die das erzählerische Erfolgsprinzip "Show, don't tell" ad absurdum führen, tun ihr Übriges zur altbackenen Aufmachung. Wirklich spannend wird es selten.

So ist Odenthals 28. Fall zwar ein ansprechend besetzter, aber formelhafter und vorhersehbarer Krimi, der nach dem stimmungsvollen Auftakt selten in Fahrt kommt und aus dem Brückenschlag in die Nazizeit keinen Mehrwert für den Kriminalfall generiert. Die für die Charakterzeichnung wertvolle Geschichte, die Tante Emma erzählt, wird zwar emotional vorgetragen, ist für die Auflösung der Täterfrage aber völlig irrelevant. Am Ende mündet die Jagd auf Mörder dann noch in ein unfreiwillig komisches Finale, in dem ein schöner Opel Kapitän HydraMatic nach einem Absturz aus zwei Metern in Flammen aufgeht – was diesen Tatort eher abwertet, als ihn noch aus dem grauen Mittelmaß herauszuhieven.

Bewertung: 5/10

Mutterliebe

Folge: 527 | 23. März 2003 | Sender: WDR | Regie: Züli Aladag
Bild: WDR/Stratmann
So war der Tatort:

Familienfixiert. 

Und das sowohl vor als auch hinter der Kamera: Filmemacher Züli Aladağ (Schwerelos) führt bei Mutterliebe nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Drehbuch zum Film  – zusammen mit seiner damaligen Frau Feo Aladağ (Exitus), die außerdem in einer Nebenrolle zu sehen ist. 

Mit einem vielversprechenden Vorspann, in dem die Darsteller wie auf einer Theaterbühne einzeln ins Licht treten und scheu in die Kamera blicken, beginnt ein Krimi, der in der Folge nicht recht in Fahrt kommen will: Der Auftaktmord und eine damit verbundene Kindesentführung dienen vor allem dazu, dem Zuschauer das zerrüttete Innenleben einer vermeintlich intakten Familie vor Augen zu führen. 

Die Krankenschwester Monika Kleiber (Sonja Baum, Alter Ego) hat Nachtschicht, als ein Säugling in die Babyklappe gelegt wird – kurz darauf ist sie tot und das Baby verschwunden. Während die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) bei ihrem 23. gemeinsamen Fall also nicht nur einen Mord, sondern auch eine Entführung aufklären müssen, weiß der Zuschauer von Anfang an, wer die gesuchte Mutter des Babys ist: Es ist die verheiratete Maria Wagner (Claudia Michelsen, später im Magdeburger Polizeiruf 110 als Hauptkommissarin Doreen Brasch zu sehen) die ihre Schwangerschaft bis zuletzt vor ihrem Mann Andreas (Tonio Arango, Die chinesische Prinzessin) und dem Rest der wohlhabenden Familie um Vorzeige-Patriarch Heinrich Wagner (Manfred Zapatka, Havarie) geheim gehalten hat. Nach der ebenso unbemerkten wie packend inszenierten Geburt im Haus der Schwiegereltern bringt sie das Neugeborene direkt zur Babyklappe.

Die bröckelnde Fassade einer vermeintlich gut situierten Familie ist ein beliebtes Tatort-Motiv (vgl. Familienbande, Blutschuld) – und auch in Mutterliebe treffen die Kommissare auf mehr oder minder labile und intrigante Familienmitglieder, die alle ihre kleinen Geheimnisse hüten. In Schwung kommt die Handlung allerdings nicht – was auch daran liegt, dass die Drehbuchautoren die falsche Fährte um Kleibers Ex-Freund Bernd Schiffer (Erdal Yildiz, beginnend mit Willkommen in Hamburg später mehrfach als Bösewicht Firat Astan im Hamburger Tatort zu sehen) sehr halbherzig ausarbeiten und vor allem die Figuren näher charakterisieren, die nur indirekt mit den Verbrechen zu tun haben. Entsprechend gehetzt und vorhersehbar fällt auch die Auflösung aus. 

Immerhin: Ganze neun Jahre, bevor seine späteren Dortmunder Tatort-Kollegen Peter Faber (Jörg Hartmann) und Martina Bönisch (Anna Schudt) diese Technik zu ihrem Markenzeichen machen, bieten die Ermittlungen Ballauf die Gelegenheit, mit vollem Körpereinsatz einen Mord nachzustellen. Die irritierte Reaktion von Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) auf die Schauspieleinlage ihres Chefs ist ein amüsanter Lichtblick in dem ansonsten eher steif erzählten Fall: Wie später in Die Blume des Bösen bekommt Junggeselle Ballauf von einer alten Flamme vor Augen geführt, was er als überzeugter Single so alles verpasst. Da dürfen Schenks Schwärmereien von der eigenen Familie ("Ich möchte meine beiden Prinzessinnen um nichts in der Welt missen!") natürlich nicht fehlen. 

Besonders hölzern wirkt eine Sequenz, in der Ballauf mit seiner ehemaligen Geliebten Lara (Maximiliane Häcke) und deren Kindern zu Abend isst: "Meine Güte, das sieht ja lecker aus. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal was Selbstgekochtes gegessen habe", verkündet der Kommissar begeistert, um dann einfach stocksteif am Tisch zu sitzen und das Essen gar nicht anzurühren. Anschließend erkundigt er sich unterm Tisch noch schnell bei der Gastgeberin, ob deren älteres Kind womöglich von ihm stammt – dass Laras Antwort genauso lang ausfällt wie die Erklärung, weshalb Krankenschwester Monika Kleiber eigentlich sterben musste, bringt das Dilemma im 527. Tatort gut auf den Punkt.

Bewertung: 3/10

Frauenmorde

Folge: 526 | 9. März 2003 | Sender: HR | Regie: Nikolaus Stein von Kamienski
Bild: HR/Jacqueline Krause-Burberg
So war der Tatort:

Nah dran an großen Vorbildern wie David Finchers Meisterwerk Sieben oder Jonathan Demmes Kult-Psychothriller Das Schweigen der Lämmer – und damit nah dran an der Höchstwertung auf der Bewertungsskala

Bei ihrem zweiten gemeinsamen Einsatz fahnden Hauptkommisswarin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und ihr Kollege Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) in Frankfurt nach einem Frauenmörder, der den von der Popkultur gefeierten Hollywood-Killern John Doe und Hannibal Lecter in Sachen Brutalität in nichts nachsteht: Nach dem Blind-Date-Sex schlachtet der Mörder seine Gespielinnen brutal ab, trennt den Torso von Kopf, Beinen und Händen und lässt das entsetzte Ermittlerteam unter Leitung von Werner "Rudi" Fromm (Peter Lerchbaumer) und Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin), der auch in Frauenmorde seinen Status als Ekelpaket unterstreicht, die Leichenteile zusammentragen. 

Regisseur und Drehbuchautor Nikolaus Stein von Kamienski (Willkommen in Köln), der bereits den unspektakulären Sänger/Dellwo-Erstling Oskar inszenierte, tut gut daran, das Privatleben des Frankfurter Duos diesmal aufs Nötigste zu reduzieren und sich ganz auf die temporeich in Szene gesetzte Suche nach dem cleveren Mörder, der das Treiben von Kriminalpolizei und Opfern geradezu hämisch mit einer Videokamera dokumentiert, zu konzentrieren. 

Der Zuschauer ist Sänger und Dellwo damit immer einen Schritt voraus: Während die Kommissare die ersten 50 Minuten des Films darauf verschwenden, den Täter im direkten Umfeld der zerstückelten Frau Karp (Stefanie Kunkel) zu vermuten und daher vor allem ihrem Ehemann (Jan-Gregor Kremp, Mann über Bord) auf den Zahn zu fühlen, wartet der Zuschauer bereits auf die zweite Leiche – wohl wissend, dass der Krimititel im Plural steht und ein voyeuristisch veranlagter Serienkiller am Werk sein muss. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Der 526. Tatort kommt schwer in Fahrt, dreht erst nach einer Dreiviertelstunde so richtig auf und schrammt deswegen knapp am Meilenstein-Status vorbei. 

Mit dem Auftritt von BKA-Oberrat Wimmer (Tim Bergmann) und FBI-Agent Gordon (Geoffrey Burton) erhält der Fall aber plötzlich eine internationale Dimension und ab diesem Moment macht von Kamienski alles richtig: Schneller und schneller peitscht er das Treiben in Frankfurt, das in einem sterilen Stundenhotel schließlich in einem hochspannenden Finale gipfelt, nach vorn, erdet seinen Tatort aber immer wieder in der Realität und verzichtet – der schlichte Titel Frauenmorde steht dafür exemplarisch – auf jeglichen Firlefanz. 

Spätestens, wenn Dellwo während der Observation einen unerwarteten Anruf des Killers erhält und panisch den eigenen Garten aufsucht, wird die Nähe zum Fincher-Klassiker Sieben überdeutlich. Und doch spielt von Kamienski hier nur gekonnt mit seinem Publikum: Natürlich überlebt Ehefrau Steffi Dellwo (Edda Leesch) den Krimi, in dem alle Beteiligten nach dem eher schleppenden Auftakt zwei Gänge hochschalten und der beim Blick auf die Gesamtreihe zu den stärksten Fällen des Frankfurter Duos Sänger und Dellwo zählt. 

Bewertung: 9/10

Stiller Tod

Folge: 523 | 26. Januar 2003 | Sender: SWR | Regie: Richard Huber
Bild: SWR/Hollenbach
So war der Tatort:

Vaterfreudig. 

Den Großteil seines dritten Einsatzes an der Seite der verwitweten Hauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes) verbringt Kommissar Bülent Isi (Ercan Özcelik) nämlich in Vorfreude auf sein erstes Kind – und muss die Ermittlungen im Fall des an Bord einer Yacht getöteten Industriellen Wolfgang Reichert immer wieder für Anrufe seiner hochschwangeren Frau unterbrechen. 

Für die Tätersuche ist der dreimalige Blum-Kollege, der in Stiller Tod zum letzten Mal in der Krimireihe zu sehen ist und sich danach in den ewigen Vaterschaftsurlaub verabschiedet, keine große Hilfe und muss sich deutliche Worte von seiner engagierten Chefin gefallen lassen ("Stellst du eigentlich auch mal Fragen oder gibst du immer nur Antworten?"). Selbst auf der Zielgeraden lässt Isi, der am Bodensee in Bitteres Brot von Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) beerbt wird, die verständnisvolle Hauptkommissarin, die in letzter Sekunde einen potenziellen Selbstmörder auf dem Dach eines Hauses stellen muss, im Stich: Bei seiner Frau ist die Fruchtblase geplatzt. Wenige Minuten später hält der glückliche Vater ein süßes Baby in den Armen – und ist nach dem Abspann Tatort-Geschichte. 

Bleibenden Eindruck hinterlässt er nach seinen drei Einsätzen nicht, denn bereits in Schlaraffenland und 1000 Tode spielte der Kommissar nur die zweite Geige hinter Blum, die im dialoglastigen Stiller Tod auf ihrer Seeterrasse bei stillen Momenten der Erinnerung an ihren verstorbenen Mann Martin (Michael Gwisdek) und beim Einpflanzen von Blumenzwiebeln im Garten gezeigt wird. 

Der 523. Tatort knüpft stilistisch genau da an, wo der 513. aufgehört hat: Regisseur Richard Huber (Auf der Sonnenseite) zeigt romantische Seepanoramen und Sonnenuntergänge und unterlegt die im gemächlichen Tempo erzählte Geschichte mit verträumter Klaviermusik – das ist mal passend, manchmal aber auch einfach nur kitschig.

Der Nebenkriegsschauplatz um Isis Vaterfreuden, in die sich auch immer wieder die furchtbar neugierige Assistentin Annika "Beckchen" Beck (Justine Hauer) einschaltet, sind das größte Ärgernis einer ansonsten sehenswerten Tatort-Folge, die erst nach einer guten Stunde ihre wahren Stärken offenbart: Tathergang und Täterfrage. 

Bis dahin sieht alles danach aus, als wisse der Zuschauer – im Gegensatz zu den weniger gut informierten Kommissaren – längst um die vermeintlich naheliegende Auflösung: Staatsanwalt Justus Fürmann (Sylvester Groth, der Eva Mattes in Die schöne Mona ist tot ein zweites Mal begegnet) ist schließlich bestens über das Verhältnis seiner Ehefrau Rita (Julia Jäger, Heimatfront) zum Hauptverdächtigen Daniel Seefeld (Janek Rieke, Märchenwald) informiert und scheint dem unter Gedächtnisverlust leidenden Nebenbuhler die Tat nur in die Schuhe schieben zu wollen. Aber ist hier alles so, wie es scheint? 

Warum sollten die Drehbuchautorinnen Martina Brand (Bienzle und der Mann im Dunkeln) und Dorothee Schön (Der Wald steht schwarz und schweiget) dann trotzdem auf das Whodunit-Prinzip setzen? Die Antwort, warum die klassische Columbo-Dramaturgie nicht funktionieren würde, kommt spät, aber sie kommt, und bildet das Fundament für einen emotionalen Showdown, bei dem Blum einmal mehr als Psychologin gefragt ist. 

Damit ist Stiller Tod nach zwei mäßigen Vorgängern der bis dato überzeugendste Fall vom Bodensee, dem man kleinere Ungereimtheiten, Isis nervtötende Telefonate und die gelegentlich etwas konstruierte Handlung (z.B. die nächtliche Abhöraktion unter der Holzbrücke) angesichts der cleveren Auflösung gern verzeiht. Auf den ersten großen Wurf aus Konstanz muss das Publikum aber noch warten.

Bewertung: 6/10