Das Glockenbachgeheimnis

Folge: 423 | 3. Oktober 1999 | Sender: BR | Regie: Martin Enlen
Bild: BR/MTM Cineteve GmbH/Laurent Trümper

So war der Tatort:


Liebevoll.

Das Glockenbachgeheimnis ist nämlich eine detailverliebte Hommage an das Münchener Stadtviertel, in dem Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) große Teile seiner glücklichen Kindheit verbrachte: das Glockenbachviertel. An jenen Bezirk also, der sich in den 60er Jahren zum Szeneviertel mauserte und in den vergangenen Jahrzehnten auch als Zentrum der Münchener Schwulen- und Lesbenszene für Aufsehen sorgte. 

Letzterer nähert sich der 423. Tatort selbst für das Jahr 1999 recht unbeholfen an: Für den verkrampften Hauptverdächtigen Paul Rochus (Michael Tregor, Tod auf der Walz), der mit Ende 40 noch bei seiner Mutter Elfriede (Doris Schade, Wenn Frauen Austern essen) wohnt und ein Verhältnis mit dem gut begüterten Mordopfer Lenny Martens (Mac Steinmeier, Und tschüss) führte, scheint das öffentliche Eingeständnis seiner homosexuellen Neigungen dem Untergang des Abendlandes gleichzukommen. Aber ist das plakativ mit Fliege, Pullunder und Mordmotiv ausgestattete Muttersöhnchen auch der Mörder? 

Die Antwort fällt leicht, denn die Fährte, die Drehbuchautor Friedrich Ani (A g'mahde Wiesn) im Mittelteil des Krimis auslegt, ist so offensichtlich falsch, dass sie das halbwegs tatorterprobte Publikum nie wirklich hinters Licht zu führen vermag. Macht aber nichts: Das Glockenbachgeheimnis, mit dem Regisseur Martin Enlen (Vorstadtballade) sein Tatort-Debüt feiert, hat andere Stärken. Neben der vor Lokalkolorit nur so strotzenden Verneigung vor dem Szenebezirk, der Leitmayr in Erinnerungen an seine verflossene Jugendliebe Susi schwelgen lässt, sind dies vor allem die ausführlich ausgearbeiteten Figuren und der starke Cast, aus dem vor allem Michael Tregor herausragt.

Tregor lotet den verklemmten Rochus facettenreich aus und zieht den Zuschauer mit seinem vereinnahmendem Spiel und der ungewöhnlichen Beziehung zur kranken Mutter – Hitchcock lässt grüßen – von Beginn an in seinen Bann. Auch Iris Berben (Mordauftrag), die 1999 zum zweiten und bis heute letzten Mal im Tatort zu sehen ist, weiß in der Rolle der im Viertel aufgewachsenen Frieda Helnwein zu überzeugen und nimmt Leitmayrs schwer verschossenen Kollegen Ivo Batic (Miroslav Nemec) gleichmal mit in die eigenen vier Wände. 

Dass Helnwein und ihre beste Freundin Doris Schellenbaum (Barbara M. Ahren, Frau Bu lacht) mehr wissen, als sie Batic zwischen Kaffee und blauer Satinbettwäsche verraten will, liegt auf der Hand; schließlich hüten die beiden gemeinsam mit Rochus Das Glockenbachgeheimnis, das in der ergreifenden Aufktaktsequenz des Krimis angedeutet wird und den markerschütternden Schlussakkord des Tatorts bildet. 

Den Kreis der Verdächtigen, dem der skrupellose Stadtteilarchitekt Feuerberg (Martin Umbach, Mördergrube) nie ernsthaft zuzurechnen ist, reduziert das entscheidend – und würde sich der Münchner Tatort nicht auch noch dem ungeschriebenen Gesetz, dass der prominenteste Nebendarsteller meist den Mörder mimt, unterwerfen, hätte aus Das Glockenbachgeheimnis ein echter Hochkaräter werden können. 

So punktet der 23. Einsatz von Batic und Leitmayr in erster Linie als authentisches, aber erst im Schlussdrittel wirklich spannendes Porträt eines Stadtviertels, um das sich bis heute viele Geheimnisse für japanische Touristen ranken. Der gebeutelte Carlo Menzinger (Michael Fitz) weiß davon ein Lied zu singen.

Bewertung: 8/10

Licht und Schatten

Folge: 416 | 4. Juli 1999 | Sender: WDR | Regie: Wolfgang Panzer
Bild: WDR/Max Kohr
So war der Tatort:

Mustergültig.

Denn der achte gemeinsame Fall der Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) folgt einem klassischen Muster, das als Erfolgsrezept auch Jahrzehnte später noch Bestand hat und das die beiden Ermittler aus der Domstadt zu einem der beliebtesten Tatort-Duos aller Zeiten macht – und dabei durchaus passabel unterhält.

Da passt es ins Bild, dass auch der einleitend Ermordete auf den Namen Muster hört(e): Der Gynäkologe Dr. Robert Muster (Hans-Werner Honert, eigentlich als TV-Produzent aktiv) ist für Schwangerschaftsabbrüche bekannt und wird im Garten seiner Villa auf dem Weg zum Swimmingpool erschossen. Da schwimmt sie nun, die obligatorische Auftaktleiche, und "Kindermörde" [sic!] hat auch noch jemand mit rotem Lack an seine Hauswand geschmiert.

Das führt uns nahtlos zu Muster Nr. 2: Einem gesellschaftlichen Reizthema, das den inhaltlichen Schwerpunkt der Folge vorgibt und das fleißig diskutiert wird – in diesem Fall allerdings recht uninspiriert, weil die Kölner Kommissare sich im Dienstwagen entweder nicht die Zeit für eine differenzierte Debatte über das Für und Wider der Abbrüche nehmen, oder weil sie im Präsidium einfach eine Talkshow-Aufzeichnung mit Dr. Muster und Abtreibungsgegner Hans Landdorf (Walter Kreye, Voll ins Herz) in den Videorekorder schmeißen. Einfallsloser kann man eine solche Kontroverse in einem Krimi kaum erzählen.

Regisseur Wolfgang Panzer (Direkt ins Herz), der gemeinsam mit Klaus-Peter Wolf (Janus) auch das Drehbuch zu Licht und Schatten geschrieben hat, spiegelt das Kernthema des Films aber auch mustergültig im persönlichen Schicksal des Kölner Ermittlerteams – genauer gesagt in der Vergangenheit von Assistentin Lissy Pütz (Anna Loos), die beim lockeren Pressespiegel-Plausch mit Ballauf wie selbstverständlich erwähnt, dass sie auch mal einen Abort bei (natürlich) Dr. Muster hat durchführen lassen.


PÜTZ:
Er hat mir sehr geholfen.

BALLAUF:
Ja, will ich jetzt gar nicht wissen, geht mich auch nix an.

PÜTZ:
Das wollte der Typ damals auch nicht.


Momente wie dieser sind typisch für den Kölner Tatort der Jahrtausendwende, doch die Filmemacher gehen diesmal sogar noch einen Schritt weiter – und überspannen den Bogen damit heftig. Freddy Schenks Tochter Sonja (Natalie Spinell-Beck), die bereits im Vorgänger Kinder der Gewalt einen Kurzauftritt hatte und von zu Hause ausgerissen ist, ist nämlich ebenfalls schwanger – und steht prompt bei Ballauf auf der Matte, um vorübergehend bei ihm Unterschlupf zu suchen. Später quartiert sich die 15-Jährige mal eben im Haus des ermordeten Gynäkologen ein, weil sie dessen Sohn Rüdiger Muster (Antonio Wannek, Todesschütze) zufällig in der Praxis kennengelernt hat.

Das liest sich reichlich hanebüchen und ist der Glaubwürdigkeit der 416. Tatort-Folge alles andere als dienlich – und überhaupt fällt es uns oft schwer, die Manöver des Teenagers nachzuvollziehen. Warum sollte sie sich ausgerechnet Ballauf anvertrauen, den sie nur flüchtig kennt, wenn dort die Gefahr der Entdeckung am größten ist? Das wirkt nicht schlüssig und überhaupt bringt Schenks verzweifelte Suche nach seiner abtrünnigen Tochter die sonst so solide Episode allenfalls emotional voran. Es wird gebrüllt, es wird gestritten und es wird sich umarmt – die Suche nach dem Mörder und der Auflösung der vorhersehbaren Whodunit-Konstruktion tritt dabei aber auf der Stelle.

Licht und Schatten ist dennoch ein Tatort, in dem sich Licht und Schatten die Waage halten, weil auch positive Aspekte zu nennen sind: Langweilig ist dieser Krimi zu keinem Zeitpunkt, was auch daran liegt, dass Schenks Betroffenheit der Angelegenheit spätestens beim dramatischen Finale (in dem Ballauf seine Qualitäten als Scharfschütze unter Beweis stellen darf) zusätzliche Würze verleiht. Die Geschichte gerät zwar etwas kitschig, aber sie hat Herz. Sie punktet mit einer steilen Spannungskurve und mit Fernsehlegende Monika Woytowicz (Nur ein Spiel) in der Rolle der betrogenen Gynäkologengattin zählt in einer wichtigen Nebenrolle eine erstklassige Schauspielerin zum Cast, die leider etwas wenig Raum zur Entfaltung bekommt.

Zu entdecken gibt es außerdem den jungen Robert Stadlober (als gelbhaariger Punk Freddy Knopf) und die junge Alexandra Kamp (als rothaarige Klischee-Sekretärin), die Freddy Schenk wahnsinnig schlecht gealterten 90er-Jahre-Sexismus entlocken darf ("Tippse – hübscher Leckerbissen!"). Von Sonja Schenk müssen wir uns hingegen über 20 Jahre lang verabschieden: Sie feiert erst 2023 im Tatort Schutzmaßnahmen ein Comeback an der Seite ihres ergrauten (und deutlich ausgeglicheneren) Vaters.

Bewertung: 5/10

Absolute Diskretion

Folge: 415 | 27. Juni 1999 | Sender: rbb | Regie: Peter Payer
Bild: MDR/DEGETO/ORF/Ali Schafler
So war der Tatort:

Absolut diskret – wie es der Krimititel bereits verrät. 

Und zugleich clever arrangiert: Die Drehbuchautoren Roland Gugganig und Rudolf John bringen bei ihrem ersten und bis heute letzten Einsatz für die Tatort-Reihe das Kunststück fertig, einen klassischen Whodunit zu konzipieren, der trotz der ungeklärten Täterfrage ein wenig an die populären Columbo-Krimis erinnert. 

Das mag zunächst paradox klingen, begründet sich aber mit der ausführlichen Einleitung, in der die Polizei noch keine Rolle spielt und stattdessen gleich vier der fünf Tatverdächtigen bei einem gemeinsamen Zusammentreffen in die Handlung eingeführt werden. Der Zuschauer wird Zeuge eines Sex-Abenteuers, das zugleich als Alibi der vier herhalten muss und in dessen Anschluss Absolute Diskretion gefragt ist: Der erfolgreiche Mediziner und Politiker Peter Pollak (Friedrich von Thun, Alles Palermo) und seine als Künstlerin tätige Ehefrau Helen (Regina Fritsch) begrüßen in ihrer teuren Villa ein fremdes Pärchen – die hübsche Mirjam Hartmann (Anna Thalbach, Dornröschens Rache) und den nicht minder attraktiven Roman Kraus (Gregor Bloéb). 

Gleich im Anschluss an den nächtlichen Partnertausch, bei dem vor allem Helen Pollak auf ihre Kosten kommt, lüften die Filmemacher jedoch das erste Geheimnis: Hartmann und Kraus haben das Pärchen nur vorgespielt. Es bleibt nicht die letzte Trumpfkarte der Drehbuchautoren, und so tappen Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer), der bei seinem zweiten Einsatz in Wien wieder von der frechen Suza Bindner (Loretta Pflaum) und dem biederen Norbert Dobos (Alois Frank) unterstützt wird, bei der Suche nach dem Mörder von Kraus' Ehefrau lange im Dunkeln.

Leider belassen es Gugganig und John nicht dabei, sich bei der Täterfrage auf den Abend in der Villa und die beiden ungleichen Pärchen zu konzentrieren. Stattdessen eröffnen sie im 415. Tatort gleich mehrere Nebenkriegsschauplätze: Der unnötigste davon ist das Eisnersche Techtelmechtel mit Mirjam Hartmann, die ihren Sohn als Eskortdame durchbringt und sich in eine kurze, für den Handlungsverlauf aber entscheidende Affäre mit dem Wiener Hauptkommissar stürzt. Am Ende ist es dann ärgerlicherweise Kommissar Zufall, der dem ratlosen Eisner auf die Sprünge hilft und all das, was zwischen Tatort-Minute 15 und Tatort-Minute 75 passiert, mehr oder weniger überflüssig macht. 

Absolute Diskretion ist dennoch keine Enttäuschung – dafür ist die Ausgangslage zu pikant und die Leistung der Nebendarsteller, allen voran die der großartigen Anna Thalbach, zu überzeugend. Einzig Gregor Bloéb, dem neben ein paar amüsanten Minuten in einer U-Haft-Zelle ("Ich hasse Schweißfüße!") nur wenige Minuten vor der Kamera vergönnt sind, kommt am Ende ein wenig zu kurz.

Bewertung: 6/10

Kinder der Gewalt

Folge: 411 | 2. Mai 1999 | Sender: WDR | Regie: Ben Verbong
Bild: WDR
So war der Tatort:

Schulterroristisch.

Denn ähnlich wie der drei Jahre später ausgestrahlte, thematisch ähnlich gelagerte und absolut grandiose Fernsehfilm Wut nimmt der WDR uns in diesem Krimidrama mit an einen Ort, der für viele Kinder die Hölle auf Erden ist und den wir aus unserer Kindheit (fast) alle noch sehr gut kennen: eine öffentliche Schule. Dort herrschen nicht etwa Frieden und Freude am Lernen, sondern der blanke Terror, das pure Desinteresse und ein toxischer Mix aus Angst und Gewalt.

Die Schülerinnen und Schüler sind als Kinder der Gewalt auch titelgebend für diesen Kölner Tatort, in dem die Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) zum siebten Mal gemeinsam ermitteln – und sie können einem nur leid tun. Die meisten Lehrenden – eine engagierte Klassenlehrerin (Sabine Orléans, Wahre Liebe) ausgenommen – haben die minderjährigen Rabauken aufgegeben, während ihre Eltern sich nicht für ihren Nachwuchs interessieren, ihren Alltagsfrust an ihm auslassen oder gar keine Zeit für ihn haben.

Auf der Schultoilette kommt einleitend Milchbubi Jürgen (Christian Mickeleit) zu Tode, der Sohn von Wirtin Gabi Schuster (Saskia Vester, Kopper), in deren Hotel Ballauf Quartier bezogen hat: Von deutschen Schlägern wie "Tucky" (Tom Schilling) und Kalle (Martin Heisterkamp) sowie dem arbeitslosen Nazi und – interessante Kombination – Onyx-Hörer Johannes Schmitz (Nikolaus Benda, Der Reiz des Bösen) wird er zur Mittäterschaft bei Einbrüchen erpresst, von türkischen Schlägern wie Ali (Dennis Lorke) und Murat (Memet Bulent) um seine Turnschuhe erleichtert. Also jagt sich der Junge in Full-Metal-Jacket-Manier eine Kugel in den Kopf. Oder war es doch gezielter Mord?

Der aufbrausende Ballauf ist der Einzige in diesem Krimi, der Zweifel an der Suizidtheorie hegt, was nicht von ungefähr kommt: Er hat am Vorabend mit Jürgen zwei Hamburger verdrückt und vergeblich versucht, ihn dabei auszuhorchen. Auch mit Blick auf seine vom Schicksal gebeutelte Vermieterin Gabi mag er den Fall nicht einfach zu den Akten legen.


SCHENK:
Ich verstehe dich total. Aber hast du nicht das Gefühl, dass du dich da ein bisschen verrennst? Wir haben Anderes zu tun.

BALLAUF:
Wir haben keine Zeit, ja? Wolltest du das gerade sagen? Wir haben keine Zeit? Niemals hat jemand für diesen kleinen Jungen Zeit gehabt! Sein ganzes kurzes verschissenes Leben lang!


Im soliden Drehbuch von Edgar von Cossart (Kindstod) und Ben Verbong, der auch Regie führt, sind Ballaufs Zweifel ein elementares Mittel zum Zweck: Gäbe es da nicht die Möglichkeit, dass Jürgen von einer anderen Person erschossen würde, würden Schenk und Ballauf gar nicht erst auf den Plan gerufen. Letzterer schleust sich sogar undercover als Sportlehrer an der Schule ein – und man muss beide Augen zudrücken, um sich auf diesen konstruierten Handlungsschlenker einzulassen.

Doch er bietet die willkommene Möglichkeit, in Anwesenheit des Ermittler tief in den täglichen Schulterror einzutauchen und Ballaufs persönliche Eindrücke im Präsidium Revue passieren zu lassen, Statements für Toleranz und Integration zu platzieren und die deutsch-türkische Dauerfehde an der Schule mit dem türkischstämmigen Kollegen Hakan (Baki Davrak, Tote Männer) zu reflektieren. Köln legt den Finger auch 199 schon auf den Puls der Zeit und in die offene Wunde der Gesellschaft – und wird das in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder tun (vgl. Rabenherz, Wacht am Rhein oder Wie alle anderen auch).

Unterm Strich gelingt den Filmemachern die Aufarbeitung der Problematik an Gesamtschulen sehr gut, wenngleich sie nicht alle Arm-Reich- und Deutsch-Nicht-Deutsch-Klischees umschiffen und die nur pro forma gestellte Frage nach der Auflösung in den Hintergrund rückt. Abzüge gibt es aber nicht nur für die konstruierte Undercover-Idee und einige schlecht gealterte Schwulen-Sprüche, sondern auch für die Besetzung: Mit den späteren Kinostars Tom Schilling (Auskreuzung) und der etwas zu alt gecasteten Jasmin Schwiers (Klassentreffen) gibt es zwar zwei hochtalentierte Darsteller in jungen Jahren zu entdecken, doch die TV-Karrieren von Christian Mickeleit, Max Riedel oder Dennis Lorke sind kurz darauf wieder beendet. Ihr mimisches Talent ist begrenzt.

Der Film ist für Stammzuschauer aber auch noch aus drei anderen Gründen interessant: Kinder der Gewalt ist der erste Tatort mit Tessa Mittelstaedt im Präsidium – kurioserweise aber nicht in ihrer populären Rolle als Franziska Lüttgenjohann (die sie im Jahr 2000 in Die Frau im Zug antritt), sondern als Assistentin Anja, der Urlaubsvertretung von Lissy Pütz (Anna Loos). Außerdem lernen wir Freddy Schenks älteste Tochter Sonja (Natalie Spinell, Licht und Schatten) kennen, die unter Max Ballaufs Schreibtisch für einen der humorvollsten Momente des Krimis sorgt. Freddy Schenk wiederum darf beim kitschigen Schlussakkord für ein paar Sekunden das Fußballtor hüten – eine kultverdächtige Szene, bei der der Keeper stolze acht Schüsse passieren lässt und keinen Ball hält.

Bewertung: 7/10

Starkbier

Folge: 407 | 7. März 1999 | Sender: BR | Regie: Peter Fratzscher
Bild: Bavaria Film GmbH/BR/klick/Rolf von der Heydt
So war der Tatort:

Obergärig.

Denn bei ihrem 22. Fall sind die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) besonders bayrisch-traditionell unterwegs: Beim alljährlichen Starkbieranstich wird in der Benedictus-Brauerei mit den vom Oktoberfest bekannten Worten "O'zapft is!" feierlich die Starkbierzeit eröffnet. Mit dabei sind nicht nur Münchner Politiker und das Who's who des Brauereigewerbes, sondern auch Assistent Carlo Menzinger  (Michael Fitz): Der Bierfan wurde von seinem Fußball-Spezl, dem Getränkegroßhändler Anton Irlbeck (Christoph Gareisen, Mauerpark), eingeladen und kommt bei der Veranstaltung voll auf seine Kosten. 

Batic und Leitmayr sind währenddessen bei einem nächtlichen Einsatz eingespannt: In einer etwas abstrusen Nebenhandlung suchen die beiden nach einem kroatischen Auftragskiller, wodurch es schon zehn Minuten nach dem Intro zum ersten Einsatz eines Sondereinsatzkommandos samt Rauchgranaten kommt. So nimmt der Tatort schon vor dem eigentlichen Mord an Fahrt auf – auch wenn wir nie ganz verstehen, was es mit diesem Parallelfall eigentlich auf sich hat.

Neben dem feuchtfröhlichen Bierfest und dem dramatischen SEK-Einsatz eröffnet Drehbuchautor Michael Wogh, der mit Starkbier zum ersten und letzten Mal für den Tatort im Einsatz war, in dieser Nacht noch einen weiteren Schauplatz: Marketingdirektor Dr. Maximilian Meindl (Nikol Voigtländer, Licht und Schatten) schaut sich heimlich im Sudhaus der Benedictus-Brauerei um. Am nächsten Morgen ist er tot – scheinbar aufgrund eines im Alkoholrausch selbst verursachten Autounfalls.

Da Batic und Leitmayr noch mit dem kroatischen Killer beschäftigt sind, ist der verkaterte Carlo Menzinger allein am Tatort und übernimmt den Fall kurzerhand selbst. Dafür ist er auch prädestiniert: Wie wir aus späteren Folgen wie Die letzte Wiesn wissen, sind die Münchner Kommissare eher keine Experten für Oktoberfest & Co. Menzinger vermutet, dass der Unfall bloß inszeniert wurde, und beginnt eher intuitiv als strukturiert seine Ermittlungen. Die vielbeschäftigten Kommissare überlassen ihm den Fall etwas widerwillig.


LEITMAYR:
Ist schon recht, Carlo. Der Fall Meindl ist dein Bier.

BATIC:
Aber wenn du Murks machst, dann ist es unser Bier, weil wir tragen die Verantwortung.


Das geringe Vertrauen in den sonst nur assistierenden Kollegen ist nicht ganz unberechtigt. Regisseur Peter Fratzscher (Der Finger) gibt uns hinter dem Rücken der Kriminalisten immer wieder kurze Einblicke in die Machenschaften in der Traditionsbrauerei, und wir ahnen, dass Menzinger bei seinen Befragungen den falschen Leuten vertraut. Vom Direktor Eisinger (Werner Haindl, Frau Bu lacht) über den Braumeister Kiem (August Schmölzer, Tod unter der Orgel) bis hin zum Angestellten Jiri Hasek (Aleksandar Jovanovic, Gott ist auch nur ein Mensch) scheinen auch alle Mitarbeitenden der Brauerei etwas zu verbergen, und uns wird erst mit der Zeit klar – wenn auch vor den Kommissaren – wer wirklich hinter dem Mord an Meindl steckt.

Damit bewegt sich Starkbier irgendwo zwischen einem Whodunit und einem Howcatchem. Die Tätersuche lässt nicht wirklich Spannung aufkommen und die Ermittlungsarbeit des Münchner Trios ist durch ihre Ineffektivität selten packend. Der Film lebt vor allem von seiner hohen Handlungsdichte innerhalb der 90 Minuten: Er bietet Schusswechsel und Handgemenge, zwei versuchte Morde, wütende Verhöre, einen harten Schnitt von einer Kussszene zu einer blutüberströmten Leiche und Verfolgungsjagden. So bleibt die Folge stets kurzweilig und unterhaltsam – solange man nicht den Anspruch hat, die Handlung bis ins Detail nachzuvollziehen.

Dass Carlo Menzinger als Ermittler dermaßen im Mittelpunkt steht und sich sogar auf eine Affäre mit Sabine Irlbeck (Marie Munz) einlässt, ist zudem eine nette Abwechslung und ein im Münchner Tatort selten zu beobachtender Perspektivwechsel. Seine unkonventionelle Vorgehensweise bringt zusätzlichen Schwung in die traditionelle Polizeiarbeit, und trotzdem kommen auch Batic und Leitmayr mit ihrer üblichen Dynamik nicht zu kurz. Die Ermittler sind stellenweise in Möchtegern-James-Bond-Manier unterwegs: Auch angeschossen oder mit Gehirnerschütterung büxen sie gleich wieder aus der Notaufnahme aus, um den Verdächtigen auf den Fersen zu bleiben. Am Ende trägt jeder eine Verletzung davon – und die Kommissare verabreden sich zur Erholung erstmal auf ein Bier.

Bewertung: 6/10

Nie wieder Oper

Folge: 404 | 17. Januar 1999 | Sender: ORF | Regie: Robert A. Pejo
Bild: ORF
So war der Tatort:

Musikalisch.

Oder auch nicht: Bei seinem ersten Einsatz outet sich der neue Wiener Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) einleitend nämlich gleich mal als echter Opernmuffel – und muss in den folgenden 90 Minuten ausgerechnet den Mord an einem ehemaligen Star-Tenor aufklären. 

Seine Ermittlungen führen Eisner in ein Seniorenheim, in dem es vor verwelkten Bühnenschönheiten, Stimmwundern und ehemaligen Star-Sopranistinnen nur so wimmelt: Regisseur Robert-Adrian Pejo (Tödliche Tagung), der gemeinsam mit Peter Conolly-Smith auch das Drehbuch zu Nie wieder Oper schrieb, entspinnt ein cleveres Netz aus Neid, Intrigen und Eifersucht – und damit einen klassischen Whodunit, bei dem der Täterkreis sich auf die Bewohner und das Personal des Altersheims beschränkt. 

Welche Rolle spielen der skrupellose Heimleiter Eugen Hoffman (Christoph Moosbrugger), die alkoholkranke Ärztin Dr. Svetlana Gruber (Konstanze Breitebner, Gefährliche Zeugin) und der – Hallo, ich bin nicht der Hellste, deswegen kämme ich mir die Haare schlecht! – notgeile Hausmeister Zimmer (Georg Friedrich, Am Ende des Tages)? 

Verdächtige gibt es viele - und doch kristallisiert sich unter dem Strich ein wenig zu früh heraus, wer den Ex-Opernstar mit Strychnin vergiftet hat – und das nicht nur, weil wie so oft im Tatort mal wieder das bekannteste Gesicht unter den Nebendarstellern für den Mord verantwortlich zeichnet.

Harald Krassnitzers Debüt als Wiener Chefinspektor erweist sich dennoch als gelungen: Eisner bringt die nötigen Ecken und Kanten mit, die einen dauerhaft erfolgreichen Ermittler eben ausmachen, seinen Wiedererkennungswert steigern und von seinen Kollegen innerhalb der Krimireihe abheben. 

Modische Ausrufezeichen setzt im 404. Tatort aber vor allem seine blonde Kollegin, die Gruppeninspektorin Suza Binder (Loretta Pflaum, Der Millenniumsmörder), die im Wiener Tatort noch drei weitere Male die dritte Geige hinter Eisner und Bezirksinspektor Norbert Dobos (Alois Frank) spielt: Binder erscheint erst mit einem fransigen Indianerrock ("Ist ein bisschen später geworden gestern."), später dann mit einem knallengen roten Ivica Vastic-Trikot im Büro.

Deutlich stilsicherer gibt sich da Ex-Opernsängerin Viktoria Leon, in deren Rolle die österreichische Ehrenkreuzträgerin und TV-Legende Erni Mangold (Familiensache) groß aufspielt. Im Vergleich dazu fällt der Cameo-Auftritt des berühmten österreichischen Opern-Experten Marcel Prawy eher müde aus.

Bewertung: 7/10